Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ben, die Vertheilnng und Steigerung der Pointen, die feinste Feilung jedes
einzelnen Satzes, das Alles ist jede Woche mit wahrer Hingebung, mit einer
den Kenner entzückenden Reinlichkeit und Genauigkeit besorgt. Der Schliff,
den spitzer der Erscheinung seiner Gedanken gibt, ist freilich weniger darauf
gerichtet, zu blenden, als zu durchbohren, ins Herz zu treffen. Aber das ist
gerade Ursache und Grund seines Erfolges. "Der Manu ist todt und be¬
graben", konnte sich beruhigt der Wiener Spießbürger sagen, wenn er mit
spitzer an der neuesten Rede des Reichskanzlers Beust stand.

Es gehört zur Vollständigkeit unseres Bildes, wenn wir auch einiger
Schwächen des Verfassers gedenken. Nicht jede Woche hat ihr Ereigniß,
welches dieser Feder würdig wäre. Und wenn natürlich auch das einzelne
Sonntagsfenilleton geschrieben sein mußte, um wohlberechtigte Erwartungen
nicht zu täuschen, so wäre doch vielleicht für die Buchausgabe eine noch sorg¬
fältigere Auswahl zu treffen gewesen. Sodann äußert spitzer von dem
Idealismus, der ihm zweifellos innewohnt, da wir ihn stets ans der Seite
des Idealismus gegen niedrigere Strebungen kämpfen sehen, fast nichts in
seinen Feuilletons. Nur das ihm verhaßte Gegenbild des Ideals will er uus
zur Anschauung bringen. Ebenso selten finden wir bei ihm etwas von Ge¬
müth oder Gefühl. Die "Reisebriefe eines Wiener Spaziergängers" bieten
noch am meisten davon. Hier fühlt sich der Naturfreund mit sich allein, los¬
gelöst von dein schweren Beruf, die Satire seiner Zeit zu schreiben. Da
kommt das Menschliche in ihm häufig voll zum Durchbruch. Sonst sucht er,
für deutsche Leser eigentlich zu geflissentlich, sein Ideal, sein Herz und sein
Gefühl zu verbergen. Nur ein Wort dentet dem genauen Beobachter dann
und wann den tiefen ethischen oder gemüthlichen Antheil an, den spitzer an
den Ereignissen nimmt, die er in der scheinbar besten, d. h, boshaftesten Laune
dem ergötzten Leser darstellt.

Ueberraschend dagegen und wiederum ein großer Vorzug spitzer's ist
seine ungewöhnliche Mannigfaltigkeit. Niemand kann im voraus sagen, wer
das Opfer seiner nächsten Sonntagsplanderei sein wird, ob der letzte Redner
des Reichsraths oder der neue Kardinal, das neueste Theaterstück oder der
neueste Baron, der jüngste spanische Verschwörer oder der zuletzt von den Ge¬
schworenen der Hauptstadt oder anderswo verurtheilte Verbrecher.

Auch der letzte, dritte Band der Wiener Spaziergänge, der jüngst in
zweiter Auflage erschienen ist,*) gibt Zeugniß von der großen Beweglichkeit
und Vielseitigkeit des Verfassers. Er beginnt mit dem Wiener Krach -- der
so rasch zu einem allgemeinen Krach sich erweiterte -- und endet mit der



') Wien, L. Rosner, 1877.

ben, die Vertheilnng und Steigerung der Pointen, die feinste Feilung jedes
einzelnen Satzes, das Alles ist jede Woche mit wahrer Hingebung, mit einer
den Kenner entzückenden Reinlichkeit und Genauigkeit besorgt. Der Schliff,
den spitzer der Erscheinung seiner Gedanken gibt, ist freilich weniger darauf
gerichtet, zu blenden, als zu durchbohren, ins Herz zu treffen. Aber das ist
gerade Ursache und Grund seines Erfolges. „Der Manu ist todt und be¬
graben", konnte sich beruhigt der Wiener Spießbürger sagen, wenn er mit
spitzer an der neuesten Rede des Reichskanzlers Beust stand.

Es gehört zur Vollständigkeit unseres Bildes, wenn wir auch einiger
Schwächen des Verfassers gedenken. Nicht jede Woche hat ihr Ereigniß,
welches dieser Feder würdig wäre. Und wenn natürlich auch das einzelne
Sonntagsfenilleton geschrieben sein mußte, um wohlberechtigte Erwartungen
nicht zu täuschen, so wäre doch vielleicht für die Buchausgabe eine noch sorg¬
fältigere Auswahl zu treffen gewesen. Sodann äußert spitzer von dem
Idealismus, der ihm zweifellos innewohnt, da wir ihn stets ans der Seite
des Idealismus gegen niedrigere Strebungen kämpfen sehen, fast nichts in
seinen Feuilletons. Nur das ihm verhaßte Gegenbild des Ideals will er uus
zur Anschauung bringen. Ebenso selten finden wir bei ihm etwas von Ge¬
müth oder Gefühl. Die „Reisebriefe eines Wiener Spaziergängers" bieten
noch am meisten davon. Hier fühlt sich der Naturfreund mit sich allein, los¬
gelöst von dein schweren Beruf, die Satire seiner Zeit zu schreiben. Da
kommt das Menschliche in ihm häufig voll zum Durchbruch. Sonst sucht er,
für deutsche Leser eigentlich zu geflissentlich, sein Ideal, sein Herz und sein
Gefühl zu verbergen. Nur ein Wort dentet dem genauen Beobachter dann
und wann den tiefen ethischen oder gemüthlichen Antheil an, den spitzer an
den Ereignissen nimmt, die er in der scheinbar besten, d. h, boshaftesten Laune
dem ergötzten Leser darstellt.

Ueberraschend dagegen und wiederum ein großer Vorzug spitzer's ist
seine ungewöhnliche Mannigfaltigkeit. Niemand kann im voraus sagen, wer
das Opfer seiner nächsten Sonntagsplanderei sein wird, ob der letzte Redner
des Reichsraths oder der neue Kardinal, das neueste Theaterstück oder der
neueste Baron, der jüngste spanische Verschwörer oder der zuletzt von den Ge¬
schworenen der Hauptstadt oder anderswo verurtheilte Verbrecher.

Auch der letzte, dritte Band der Wiener Spaziergänge, der jüngst in
zweiter Auflage erschienen ist,*) gibt Zeugniß von der großen Beweglichkeit
und Vielseitigkeit des Verfassers. Er beginnt mit dem Wiener Krach — der
so rasch zu einem allgemeinen Krach sich erweiterte — und endet mit der



') Wien, L. Rosner, 1877.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0325" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/138556"/>
          <p xml:id="ID_1006" prev="#ID_1005"> ben, die Vertheilnng und Steigerung der Pointen, die feinste Feilung jedes<lb/>
einzelnen Satzes, das Alles ist jede Woche mit wahrer Hingebung, mit einer<lb/>
den Kenner entzückenden Reinlichkeit und Genauigkeit besorgt. Der Schliff,<lb/>
den spitzer der Erscheinung seiner Gedanken gibt, ist freilich weniger darauf<lb/>
gerichtet, zu blenden, als zu durchbohren, ins Herz zu treffen. Aber das ist<lb/>
gerade Ursache und Grund seines Erfolges. &#x201E;Der Manu ist todt und be¬<lb/>
graben", konnte sich beruhigt der Wiener Spießbürger sagen, wenn er mit<lb/>
spitzer an der neuesten Rede des Reichskanzlers Beust stand.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1007"> Es gehört zur Vollständigkeit unseres Bildes, wenn wir auch einiger<lb/>
Schwächen des Verfassers gedenken. Nicht jede Woche hat ihr Ereigniß,<lb/>
welches dieser Feder würdig wäre. Und wenn natürlich auch das einzelne<lb/>
Sonntagsfenilleton geschrieben sein mußte, um wohlberechtigte Erwartungen<lb/>
nicht zu täuschen, so wäre doch vielleicht für die Buchausgabe eine noch sorg¬<lb/>
fältigere Auswahl zu treffen gewesen. Sodann äußert spitzer von dem<lb/>
Idealismus, der ihm zweifellos innewohnt, da wir ihn stets ans der Seite<lb/>
des Idealismus gegen niedrigere Strebungen kämpfen sehen, fast nichts in<lb/>
seinen Feuilletons. Nur das ihm verhaßte Gegenbild des Ideals will er uus<lb/>
zur Anschauung bringen. Ebenso selten finden wir bei ihm etwas von Ge¬<lb/>
müth oder Gefühl. Die &#x201E;Reisebriefe eines Wiener Spaziergängers" bieten<lb/>
noch am meisten davon. Hier fühlt sich der Naturfreund mit sich allein, los¬<lb/>
gelöst von dein schweren Beruf, die Satire seiner Zeit zu schreiben. Da<lb/>
kommt das Menschliche in ihm häufig voll zum Durchbruch. Sonst sucht er,<lb/>
für deutsche Leser eigentlich zu geflissentlich, sein Ideal, sein Herz und sein<lb/>
Gefühl zu verbergen. Nur ein Wort dentet dem genauen Beobachter dann<lb/>
und wann den tiefen ethischen oder gemüthlichen Antheil an, den spitzer an<lb/>
den Ereignissen nimmt, die er in der scheinbar besten, d. h, boshaftesten Laune<lb/>
dem ergötzten Leser darstellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1008"> Ueberraschend dagegen und wiederum ein großer Vorzug spitzer's ist<lb/>
seine ungewöhnliche Mannigfaltigkeit. Niemand kann im voraus sagen, wer<lb/>
das Opfer seiner nächsten Sonntagsplanderei sein wird, ob der letzte Redner<lb/>
des Reichsraths oder der neue Kardinal, das neueste Theaterstück oder der<lb/>
neueste Baron, der jüngste spanische Verschwörer oder der zuletzt von den Ge¬<lb/>
schworenen der Hauptstadt oder anderswo verurtheilte Verbrecher.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1009" next="#ID_1010"> Auch der letzte, dritte Band der Wiener Spaziergänge, der jüngst in<lb/>
zweiter Auflage erschienen ist,*) gibt Zeugniß von der großen Beweglichkeit<lb/>
und Vielseitigkeit des Verfassers. Er beginnt mit dem Wiener Krach &#x2014; der<lb/>
so rasch zu einem allgemeinen Krach sich erweiterte &#x2014; und endet mit der</p><lb/>
          <note xml:id="FID_39" place="foot"> ') Wien, L. Rosner, 1877.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0325] ben, die Vertheilnng und Steigerung der Pointen, die feinste Feilung jedes einzelnen Satzes, das Alles ist jede Woche mit wahrer Hingebung, mit einer den Kenner entzückenden Reinlichkeit und Genauigkeit besorgt. Der Schliff, den spitzer der Erscheinung seiner Gedanken gibt, ist freilich weniger darauf gerichtet, zu blenden, als zu durchbohren, ins Herz zu treffen. Aber das ist gerade Ursache und Grund seines Erfolges. „Der Manu ist todt und be¬ graben", konnte sich beruhigt der Wiener Spießbürger sagen, wenn er mit spitzer an der neuesten Rede des Reichskanzlers Beust stand. Es gehört zur Vollständigkeit unseres Bildes, wenn wir auch einiger Schwächen des Verfassers gedenken. Nicht jede Woche hat ihr Ereigniß, welches dieser Feder würdig wäre. Und wenn natürlich auch das einzelne Sonntagsfenilleton geschrieben sein mußte, um wohlberechtigte Erwartungen nicht zu täuschen, so wäre doch vielleicht für die Buchausgabe eine noch sorg¬ fältigere Auswahl zu treffen gewesen. Sodann äußert spitzer von dem Idealismus, der ihm zweifellos innewohnt, da wir ihn stets ans der Seite des Idealismus gegen niedrigere Strebungen kämpfen sehen, fast nichts in seinen Feuilletons. Nur das ihm verhaßte Gegenbild des Ideals will er uus zur Anschauung bringen. Ebenso selten finden wir bei ihm etwas von Ge¬ müth oder Gefühl. Die „Reisebriefe eines Wiener Spaziergängers" bieten noch am meisten davon. Hier fühlt sich der Naturfreund mit sich allein, los¬ gelöst von dein schweren Beruf, die Satire seiner Zeit zu schreiben. Da kommt das Menschliche in ihm häufig voll zum Durchbruch. Sonst sucht er, für deutsche Leser eigentlich zu geflissentlich, sein Ideal, sein Herz und sein Gefühl zu verbergen. Nur ein Wort dentet dem genauen Beobachter dann und wann den tiefen ethischen oder gemüthlichen Antheil an, den spitzer an den Ereignissen nimmt, die er in der scheinbar besten, d. h, boshaftesten Laune dem ergötzten Leser darstellt. Ueberraschend dagegen und wiederum ein großer Vorzug spitzer's ist seine ungewöhnliche Mannigfaltigkeit. Niemand kann im voraus sagen, wer das Opfer seiner nächsten Sonntagsplanderei sein wird, ob der letzte Redner des Reichsraths oder der neue Kardinal, das neueste Theaterstück oder der neueste Baron, der jüngste spanische Verschwörer oder der zuletzt von den Ge¬ schworenen der Hauptstadt oder anderswo verurtheilte Verbrecher. Auch der letzte, dritte Band der Wiener Spaziergänge, der jüngst in zweiter Auflage erschienen ist,*) gibt Zeugniß von der großen Beweglichkeit und Vielseitigkeit des Verfassers. Er beginnt mit dem Wiener Krach — der so rasch zu einem allgemeinen Krach sich erweiterte — und endet mit der ') Wien, L. Rosner, 1877.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/325
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/325>, abgerufen am 28.09.2024.