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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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spricht für sich selbst und erklärt sich von selbst. Darum lieber fort mit jenen
trocknen, langweiligen Kommentaren!" In diesen Worten liegt ohne Zweisel
ein Körnlein Wahrheit. Wie Lessing im "Laokoon" von den Werken des
Malers mit Recht sagt: "Von dein ersten Blick hangt die größte Wirkung ab,
und wenn uns dieser zu mühsamem Nachsinnen und Rathen nöthigt, so erkaltet
unsre Begierde gerührt zu werden", wie die "symphonischen Dichtungen"
mancher neueren Komponisten, hinter deren tiefen Sinn man nicht kommen
kann, wenn man nicht das untergelegte "Programm" in der Hand hat, künstlerisch
verfehlt sind, so ist auch dasjenige Gedicht jedenfalls das beste nicht, zu dessen
Verständniß selbst der Gebildete sich mühselig durch das Gestrüpp umfänglicher
Kommentare durcharbeiten muß. Schiller's sogenannte "philosophische" Ge¬
dichte sind abschreckende Beispiele dieser Art. Wie könnten denn anch die
Uhland'schen Balladen' eine solche Volkstümlichkeit erlangt haben, trotzdem daß
es an Hilfsmitteln zu ihrer Erläuterung fehlte, wenn nicht bei dem echten
Dichterwerke für unser Verständniß solche Krücken überflüssig wären? Vor
zwanzig Jahren schon wurde -- wie wir aus eigner Erfahrung bestätigen
können -- Uhland's "Bertram de Born" wohl zehnmal im Laufe eines Jahres
vom Schnlkatheder herab "mit dem Brusttöne der Ueberzeugung" deklamirt,
immer von neuem malte sich unsre knabenhafte Phantasie den aufrührerischen
Sängerhelden aus, deu namenlosen König und seine Tochter, "eines Herzogs
Braut", immer von neuem ergötzte sich unser Ohr an den volltönenden geo¬
graphischen Namen Autafort und Montfort, Perigord und Ventadorn, aber --
verstanden wir denn wirklich die Dichtung? Der Leser erinnere sich doch nur
seiner eignen Jugend und suche sich die Strophen ans dem Gedächtniß zu¬
sammen oder schlage, wenn er das uicht mehr vermag, die Uhland'schen Ge¬
dichte ans und frage sich dann ehrlich, ob er jemals verstanden oder auch nur
hente wenigstens versteht, um was es sich eigentlich in dem Gedichte handelt?
Der Lehrer hat uns freilich seiner Zeit nicht eine Silbe zur Erläuterung des
Gedichtes gesagt, und ihn darum zu bitten getrauten wir uns nicht; wenn er
uns nichts erklärte, so mußte ja wohl nichts daran zu erklären sein, und jeder
Hütte als Tölpel dagestanden, der bekannt hätte, daß er es nicht verstehe. Aber
wäre es nicht denkbar, daß es der Lehrer am Ende selber nicht verstand und
sich nur deshalb in kluges Schweigen hüllte? daß er vielleicht froh war, wenn
wir ihm nicht durch neugierige Fragen Verlegenheit bereiteten? Es spricht
mir heute vieles dafür, daß dieser Verdacht begründet ist.

Durch den zusammenhanglosen Notizenkram sachlicher und sprachlicher
"Anmerkungen" und durch den Luxus von allerhand "angebrachten" Parallel¬
stellen und sonstigen Merkwürdigkeiten wird freilich wenig für das Verständniß
eines Dichterwerkes gewonnen; noch weniger durch paraphrasirendes Breittreten


spricht für sich selbst und erklärt sich von selbst. Darum lieber fort mit jenen
trocknen, langweiligen Kommentaren!" In diesen Worten liegt ohne Zweisel
ein Körnlein Wahrheit. Wie Lessing im „Laokoon" von den Werken des
Malers mit Recht sagt: „Von dein ersten Blick hangt die größte Wirkung ab,
und wenn uns dieser zu mühsamem Nachsinnen und Rathen nöthigt, so erkaltet
unsre Begierde gerührt zu werden", wie die „symphonischen Dichtungen"
mancher neueren Komponisten, hinter deren tiefen Sinn man nicht kommen
kann, wenn man nicht das untergelegte „Programm" in der Hand hat, künstlerisch
verfehlt sind, so ist auch dasjenige Gedicht jedenfalls das beste nicht, zu dessen
Verständniß selbst der Gebildete sich mühselig durch das Gestrüpp umfänglicher
Kommentare durcharbeiten muß. Schiller's sogenannte „philosophische" Ge¬
dichte sind abschreckende Beispiele dieser Art. Wie könnten denn anch die
Uhland'schen Balladen' eine solche Volkstümlichkeit erlangt haben, trotzdem daß
es an Hilfsmitteln zu ihrer Erläuterung fehlte, wenn nicht bei dem echten
Dichterwerke für unser Verständniß solche Krücken überflüssig wären? Vor
zwanzig Jahren schon wurde — wie wir aus eigner Erfahrung bestätigen
können — Uhland's „Bertram de Born" wohl zehnmal im Laufe eines Jahres
vom Schnlkatheder herab „mit dem Brusttöne der Ueberzeugung" deklamirt,
immer von neuem malte sich unsre knabenhafte Phantasie den aufrührerischen
Sängerhelden aus, deu namenlosen König und seine Tochter, „eines Herzogs
Braut", immer von neuem ergötzte sich unser Ohr an den volltönenden geo¬
graphischen Namen Autafort und Montfort, Perigord und Ventadorn, aber —
verstanden wir denn wirklich die Dichtung? Der Leser erinnere sich doch nur
seiner eignen Jugend und suche sich die Strophen ans dem Gedächtniß zu¬
sammen oder schlage, wenn er das uicht mehr vermag, die Uhland'schen Ge¬
dichte ans und frage sich dann ehrlich, ob er jemals verstanden oder auch nur
hente wenigstens versteht, um was es sich eigentlich in dem Gedichte handelt?
Der Lehrer hat uns freilich seiner Zeit nicht eine Silbe zur Erläuterung des
Gedichtes gesagt, und ihn darum zu bitten getrauten wir uns nicht; wenn er
uns nichts erklärte, so mußte ja wohl nichts daran zu erklären sein, und jeder
Hütte als Tölpel dagestanden, der bekannt hätte, daß er es nicht verstehe. Aber
wäre es nicht denkbar, daß es der Lehrer am Ende selber nicht verstand und
sich nur deshalb in kluges Schweigen hüllte? daß er vielleicht froh war, wenn
wir ihm nicht durch neugierige Fragen Verlegenheit bereiteten? Es spricht
mir heute vieles dafür, daß dieser Verdacht begründet ist.

Durch den zusammenhanglosen Notizenkram sachlicher und sprachlicher
„Anmerkungen" und durch den Luxus von allerhand „angebrachten" Parallel¬
stellen und sonstigen Merkwürdigkeiten wird freilich wenig für das Verständniß
eines Dichterwerkes gewonnen; noch weniger durch paraphrasirendes Breittreten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/290>, abgerufen am 21.10.2024.