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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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des Inhaltes und durch ästhetisirende Saalbaderei -- lauter Fehler, in welche
die Kommentare von Dichterwerken nur gar zu gern verfallen --; damit wird
höchstens der Goldstaub von den Blüthen und Schmetterlingsflügeln der Poesie
abgestreift. "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!" Die Haupt¬
aufgabe des Kommentars zu einer Dichtung wird -- abgesehen von den
nöthigen Fingerzeigen, die er über die äußere Technik, über das rein Poeti-
kalische der Dichtung geben muß -- immer die bleiben, der Quelle nachzugehen,
aus welcher der Dichter geschöpft hat, und, wenn diese aufgefunden ist, einen
Vergleich anzustellen zwischen dem ursprünglichen Stoffe und der Behandlung,
die ihm der Dichter hat angedeihen lassen. Wie derjenige kein volles Ver¬
ständniß eines Musikstückes hat, dem bloß ein Schwall von Tönen am Ohre
vvrüberrauscht, sondern nur der, der im Stande ist, die einzelnen Themen
aus dem Musikstücke heraus-, sich selbst aber in ihre mannigfache Abwandlung,
Verbindung, Gegenüberstellung hiueinzuhören, wie nur derjenige die volle
Freude und den vollen Genuß an einer plastischen oder malerischen Dekoration
hat, der sich klar macht, aus welchen einfachen Motiven des Künstlers Phantasie
die ganze Fülle der Ornamentik herausgesponnen hat, so kann auch der nur
sagen, daß er ein Dichterwerk wirklich verstehe, der sich Antwort geben kann
^ auf die beiden Fragen: "Welches ist der Stoff?" "Und was hat der Dichter
daraus gemacht?" Und wer es versteht, diesen künstlerischen Gestaltungsproceß
geistvoll zu erfassen und prüeis darzulegen, uns zum Bewußtsein zu bringe",
weshalb der Dichter gewisse Veränderungen mit dein Stoffe und weshalb
gerade diese vorgenommen, der soll uns der beste und liebste Interpret sein.
Wir reden viel von "poetischen Licenzen". Was wäre das aber für eine
Dichtung, in der diese "Licenzen" wirklich nichts weiter wären, als willkürliche
Freiheiten, die sich der Dichter seinem Stoffe gegeuüber herausgenommen? In
deu Werken des echten Dichters sind diese Freiheiten, wenn man genau zusieht,
in der Regel die zwingendsten ästhetischen Nothwendigkeiten, die eng mit der
Natur des Stoffes zusammenhängen, und die nicht von der Willkür, sondern
von der reifsten Ueberlegung, von der höchsten künstlerischen Einsicht des
Dichters Zeugniß ablegen. Nur wer sich dessen bewußt wird, nur wer diesen
Einblick in die Werkstatt des Dichters sich verschafft, kann sich rühmen, ihn
wirklich zu verstehen. Für das Verständniß der dramatischen Werke unsrer
klassischen Dichter gilt allen Gebildeten die Bekanntschaft mit den historischen
Quellenstoffen längst für eine nothwendige Vorbedingung. Wer Schiller's
dramatische Gestaltungskraft im "Tell" würdigen will, der geht zurück auf
die Quellen des Dichters, auf die Schweizerchroniken von Tschudi, Stumpf
und Etterlin; um Goethe's "Götz" zu verstehen, nehmen wir die Selbstbio¬
graphie des alten fränkischen Ritters und Hütten's "Dialoge" zur Hand, für


des Inhaltes und durch ästhetisirende Saalbaderei — lauter Fehler, in welche
die Kommentare von Dichterwerken nur gar zu gern verfallen —; damit wird
höchstens der Goldstaub von den Blüthen und Schmetterlingsflügeln der Poesie
abgestreift. „Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!" Die Haupt¬
aufgabe des Kommentars zu einer Dichtung wird — abgesehen von den
nöthigen Fingerzeigen, die er über die äußere Technik, über das rein Poeti-
kalische der Dichtung geben muß — immer die bleiben, der Quelle nachzugehen,
aus welcher der Dichter geschöpft hat, und, wenn diese aufgefunden ist, einen
Vergleich anzustellen zwischen dem ursprünglichen Stoffe und der Behandlung,
die ihm der Dichter hat angedeihen lassen. Wie derjenige kein volles Ver¬
ständniß eines Musikstückes hat, dem bloß ein Schwall von Tönen am Ohre
vvrüberrauscht, sondern nur der, der im Stande ist, die einzelnen Themen
aus dem Musikstücke heraus-, sich selbst aber in ihre mannigfache Abwandlung,
Verbindung, Gegenüberstellung hiueinzuhören, wie nur derjenige die volle
Freude und den vollen Genuß an einer plastischen oder malerischen Dekoration
hat, der sich klar macht, aus welchen einfachen Motiven des Künstlers Phantasie
die ganze Fülle der Ornamentik herausgesponnen hat, so kann auch der nur
sagen, daß er ein Dichterwerk wirklich verstehe, der sich Antwort geben kann
^ auf die beiden Fragen: „Welches ist der Stoff?" „Und was hat der Dichter
daraus gemacht?" Und wer es versteht, diesen künstlerischen Gestaltungsproceß
geistvoll zu erfassen und prüeis darzulegen, uns zum Bewußtsein zu bringe»,
weshalb der Dichter gewisse Veränderungen mit dein Stoffe und weshalb
gerade diese vorgenommen, der soll uns der beste und liebste Interpret sein.
Wir reden viel von „poetischen Licenzen". Was wäre das aber für eine
Dichtung, in der diese „Licenzen" wirklich nichts weiter wären, als willkürliche
Freiheiten, die sich der Dichter seinem Stoffe gegeuüber herausgenommen? In
deu Werken des echten Dichters sind diese Freiheiten, wenn man genau zusieht,
in der Regel die zwingendsten ästhetischen Nothwendigkeiten, die eng mit der
Natur des Stoffes zusammenhängen, und die nicht von der Willkür, sondern
von der reifsten Ueberlegung, von der höchsten künstlerischen Einsicht des
Dichters Zeugniß ablegen. Nur wer sich dessen bewußt wird, nur wer diesen
Einblick in die Werkstatt des Dichters sich verschafft, kann sich rühmen, ihn
wirklich zu verstehen. Für das Verständniß der dramatischen Werke unsrer
klassischen Dichter gilt allen Gebildeten die Bekanntschaft mit den historischen
Quellenstoffen längst für eine nothwendige Vorbedingung. Wer Schiller's
dramatische Gestaltungskraft im „Tell" würdigen will, der geht zurück auf
die Quellen des Dichters, auf die Schweizerchroniken von Tschudi, Stumpf
und Etterlin; um Goethe's „Götz" zu verstehen, nehmen wir die Selbstbio¬
graphie des alten fränkischen Ritters und Hütten's „Dialoge" zur Hand, für


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[0291] des Inhaltes und durch ästhetisirende Saalbaderei — lauter Fehler, in welche die Kommentare von Dichterwerken nur gar zu gern verfallen —; damit wird höchstens der Goldstaub von den Blüthen und Schmetterlingsflügeln der Poesie abgestreift. „Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!" Die Haupt¬ aufgabe des Kommentars zu einer Dichtung wird — abgesehen von den nöthigen Fingerzeigen, die er über die äußere Technik, über das rein Poeti- kalische der Dichtung geben muß — immer die bleiben, der Quelle nachzugehen, aus welcher der Dichter geschöpft hat, und, wenn diese aufgefunden ist, einen Vergleich anzustellen zwischen dem ursprünglichen Stoffe und der Behandlung, die ihm der Dichter hat angedeihen lassen. Wie derjenige kein volles Ver¬ ständniß eines Musikstückes hat, dem bloß ein Schwall von Tönen am Ohre vvrüberrauscht, sondern nur der, der im Stande ist, die einzelnen Themen aus dem Musikstücke heraus-, sich selbst aber in ihre mannigfache Abwandlung, Verbindung, Gegenüberstellung hiueinzuhören, wie nur derjenige die volle Freude und den vollen Genuß an einer plastischen oder malerischen Dekoration hat, der sich klar macht, aus welchen einfachen Motiven des Künstlers Phantasie die ganze Fülle der Ornamentik herausgesponnen hat, so kann auch der nur sagen, daß er ein Dichterwerk wirklich verstehe, der sich Antwort geben kann ^ auf die beiden Fragen: „Welches ist der Stoff?" „Und was hat der Dichter daraus gemacht?" Und wer es versteht, diesen künstlerischen Gestaltungsproceß geistvoll zu erfassen und prüeis darzulegen, uns zum Bewußtsein zu bringe», weshalb der Dichter gewisse Veränderungen mit dein Stoffe und weshalb gerade diese vorgenommen, der soll uns der beste und liebste Interpret sein. Wir reden viel von „poetischen Licenzen". Was wäre das aber für eine Dichtung, in der diese „Licenzen" wirklich nichts weiter wären, als willkürliche Freiheiten, die sich der Dichter seinem Stoffe gegeuüber herausgenommen? In deu Werken des echten Dichters sind diese Freiheiten, wenn man genau zusieht, in der Regel die zwingendsten ästhetischen Nothwendigkeiten, die eng mit der Natur des Stoffes zusammenhängen, und die nicht von der Willkür, sondern von der reifsten Ueberlegung, von der höchsten künstlerischen Einsicht des Dichters Zeugniß ablegen. Nur wer sich dessen bewußt wird, nur wer diesen Einblick in die Werkstatt des Dichters sich verschafft, kann sich rühmen, ihn wirklich zu verstehen. Für das Verständniß der dramatischen Werke unsrer klassischen Dichter gilt allen Gebildeten die Bekanntschaft mit den historischen Quellenstoffen längst für eine nothwendige Vorbedingung. Wer Schiller's dramatische Gestaltungskraft im „Tell" würdigen will, der geht zurück auf die Quellen des Dichters, auf die Schweizerchroniken von Tschudi, Stumpf und Etterlin; um Goethe's „Götz" zu verstehen, nehmen wir die Selbstbio¬ graphie des alten fränkischen Ritters und Hütten's „Dialoge" zur Hand, für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/291>, abgerufen am 29.09.2024.