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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Die Zeit und wir vergeh'",
Was wir hier sehen steh'n
In diesem schönen Garten,
Verwelkt in kurzer Zeit,
Weil schon des Herbstes Neid
Scheint d'reins zu warten.

Nach der Sitte der Zeit gaben sich die Dichter idyllische Schäfernamen.
Caldeubach nannte sich Celadon oder Lykabas, Adersbach Barchedas, Robertin
Berinto, Dach Chasmindo, Sichamand, Jschmando, Albert Damond. Ernste
und heitere Töne erklangen in diesem poetischen Kränzchen, das, als dem festen
Stamm, aus zwölf Mitgliedern bestand, aber die ernsten überwogen. Ein ge¬
wisser melancholischer Zug beherrschte diese Dichter, den die Epidemien und die
Opfer, die sie forderten, so wie die Kriege, von denen ja auch Preußen nicht
verschont geblieben war, in ihnen geweckt haben mochten. Häufig dichtete einer
dem andern das Sterbelied, noch während er lebte. So ist Dach's Gedicht:
Ich bin ja, Herr, in Deiner Macht, von Dach für Robertin verfaßt. Albert
bezeichnete in seinem Garten zwölf Kürbisse mit den Namen seiner Freunde
und fügte jedem Namen einen Reim bei, der an die Vergänglichkeit des mensch¬
lichen Lebens erinnerte. Auf Wunsch Robertin's wurden diese Reime von
Albert auch in Musik gesetzt und in den Versammlungen gesungen. Weil
diese Gemeinschaft so absichtlich das Bewußtsein der Vergänglichkeit Pflegte,
nannte man sie die Gesellschaft der Sterblichkeit-Beflissenen. Dies Gefühl der
menschlichen Vergänglichkeit war aber dnrch eine tief christliche Frömmigkeit
von Ewigkeits- und Hoffnnngsgedanken durchdrungen. Das Wort, mit dem
Robertin ein dem Tod einer Freundin geweihtes Lied schließt:


Alles Leben liegt daran,
Daß man selig sterben kann,

bezeichnet die Stimmung, welche in diesem Kreise waltete. Aber es ist auf¬
fallend, daß die heiteren Lieder, die ans ihm hervorgingen, besonders die Liebes¬
lieder, ein sehr geringes Maß sittlichen Gehaltes in sich tragen. Man ahnt
nicht, daß dieselben Männer, von denen jene tiefen ernsten Lieder stammen,
diese oft so seichten, jedes bewegten Tones baaren Liebeslieder, die mit unsern
erotischen Volksliedern zu vergleichen für letztere beleidigend wäre, zu singen
vermögen. Es fehlte ihnen an innerer geistiger Einheit, der leichte Ton, wie
er in den Liebesliedern des Horaz angeschlagen wird, und der elegische Ton
der Sterbelieder steht unvermittelt neben einander. So können wir es be¬
greifen, daß die Dichter ihre Liebeslieder bereuten, sich ihrer schämten und sie
selbst durch neue religiöse Texte, die den ursprünglichen angepaßt waren,
ersetzten.


Grenzboten III, 1377. 18
Die Zeit und wir vergeh'»,
Was wir hier sehen steh'n
In diesem schönen Garten,
Verwelkt in kurzer Zeit,
Weil schon des Herbstes Neid
Scheint d'reins zu warten.

Nach der Sitte der Zeit gaben sich die Dichter idyllische Schäfernamen.
Caldeubach nannte sich Celadon oder Lykabas, Adersbach Barchedas, Robertin
Berinto, Dach Chasmindo, Sichamand, Jschmando, Albert Damond. Ernste
und heitere Töne erklangen in diesem poetischen Kränzchen, das, als dem festen
Stamm, aus zwölf Mitgliedern bestand, aber die ernsten überwogen. Ein ge¬
wisser melancholischer Zug beherrschte diese Dichter, den die Epidemien und die
Opfer, die sie forderten, so wie die Kriege, von denen ja auch Preußen nicht
verschont geblieben war, in ihnen geweckt haben mochten. Häufig dichtete einer
dem andern das Sterbelied, noch während er lebte. So ist Dach's Gedicht:
Ich bin ja, Herr, in Deiner Macht, von Dach für Robertin verfaßt. Albert
bezeichnete in seinem Garten zwölf Kürbisse mit den Namen seiner Freunde
und fügte jedem Namen einen Reim bei, der an die Vergänglichkeit des mensch¬
lichen Lebens erinnerte. Auf Wunsch Robertin's wurden diese Reime von
Albert auch in Musik gesetzt und in den Versammlungen gesungen. Weil
diese Gemeinschaft so absichtlich das Bewußtsein der Vergänglichkeit Pflegte,
nannte man sie die Gesellschaft der Sterblichkeit-Beflissenen. Dies Gefühl der
menschlichen Vergänglichkeit war aber dnrch eine tief christliche Frömmigkeit
von Ewigkeits- und Hoffnnngsgedanken durchdrungen. Das Wort, mit dem
Robertin ein dem Tod einer Freundin geweihtes Lied schließt:


Alles Leben liegt daran,
Daß man selig sterben kann,

bezeichnet die Stimmung, welche in diesem Kreise waltete. Aber es ist auf¬
fallend, daß die heiteren Lieder, die ans ihm hervorgingen, besonders die Liebes¬
lieder, ein sehr geringes Maß sittlichen Gehaltes in sich tragen. Man ahnt
nicht, daß dieselben Männer, von denen jene tiefen ernsten Lieder stammen,
diese oft so seichten, jedes bewegten Tones baaren Liebeslieder, die mit unsern
erotischen Volksliedern zu vergleichen für letztere beleidigend wäre, zu singen
vermögen. Es fehlte ihnen an innerer geistiger Einheit, der leichte Ton, wie
er in den Liebesliedern des Horaz angeschlagen wird, und der elegische Ton
der Sterbelieder steht unvermittelt neben einander. So können wir es be¬
greifen, daß die Dichter ihre Liebeslieder bereuten, sich ihrer schämten und sie
selbst durch neue religiöse Texte, die den ursprünglichen angepaßt waren,
ersetzten.


Grenzboten III, 1377. 18
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[0145] Die Zeit und wir vergeh'», Was wir hier sehen steh'n In diesem schönen Garten, Verwelkt in kurzer Zeit, Weil schon des Herbstes Neid Scheint d'reins zu warten. Nach der Sitte der Zeit gaben sich die Dichter idyllische Schäfernamen. Caldeubach nannte sich Celadon oder Lykabas, Adersbach Barchedas, Robertin Berinto, Dach Chasmindo, Sichamand, Jschmando, Albert Damond. Ernste und heitere Töne erklangen in diesem poetischen Kränzchen, das, als dem festen Stamm, aus zwölf Mitgliedern bestand, aber die ernsten überwogen. Ein ge¬ wisser melancholischer Zug beherrschte diese Dichter, den die Epidemien und die Opfer, die sie forderten, so wie die Kriege, von denen ja auch Preußen nicht verschont geblieben war, in ihnen geweckt haben mochten. Häufig dichtete einer dem andern das Sterbelied, noch während er lebte. So ist Dach's Gedicht: Ich bin ja, Herr, in Deiner Macht, von Dach für Robertin verfaßt. Albert bezeichnete in seinem Garten zwölf Kürbisse mit den Namen seiner Freunde und fügte jedem Namen einen Reim bei, der an die Vergänglichkeit des mensch¬ lichen Lebens erinnerte. Auf Wunsch Robertin's wurden diese Reime von Albert auch in Musik gesetzt und in den Versammlungen gesungen. Weil diese Gemeinschaft so absichtlich das Bewußtsein der Vergänglichkeit Pflegte, nannte man sie die Gesellschaft der Sterblichkeit-Beflissenen. Dies Gefühl der menschlichen Vergänglichkeit war aber dnrch eine tief christliche Frömmigkeit von Ewigkeits- und Hoffnnngsgedanken durchdrungen. Das Wort, mit dem Robertin ein dem Tod einer Freundin geweihtes Lied schließt: Alles Leben liegt daran, Daß man selig sterben kann, bezeichnet die Stimmung, welche in diesem Kreise waltete. Aber es ist auf¬ fallend, daß die heiteren Lieder, die ans ihm hervorgingen, besonders die Liebes¬ lieder, ein sehr geringes Maß sittlichen Gehaltes in sich tragen. Man ahnt nicht, daß dieselben Männer, von denen jene tiefen ernsten Lieder stammen, diese oft so seichten, jedes bewegten Tones baaren Liebeslieder, die mit unsern erotischen Volksliedern zu vergleichen für letztere beleidigend wäre, zu singen vermögen. Es fehlte ihnen an innerer geistiger Einheit, der leichte Ton, wie er in den Liebesliedern des Horaz angeschlagen wird, und der elegische Ton der Sterbelieder steht unvermittelt neben einander. So können wir es be¬ greifen, daß die Dichter ihre Liebeslieder bereuten, sich ihrer schämten und sie selbst durch neue religiöse Texte, die den ursprünglichen angepaßt waren, ersetzten. Grenzboten III, 1377. 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/145>, abgerufen am 28.09.2024.