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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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in Königsberg und Ostpreußen mit unumschränkter Gewalt. Ihr hervorragendster
Führer war Myslenta, seit 1619 Professor der Theologie und der orientalischen
Sprachen an der Universität, seit 1622 zugleich Mitglied des Konsistoriums,
und seit 1626 auch Pfarrer am Dom. Er war ein ausgezeichneter Orientalist
und verdankte seiner hervorragenden Gelehrsamkeit, daß er sieben Mal das
Rektorat der Universität verwaltete. Aber er war anch ein maßlos leidenschaft-
licher Mann, ein Fanatiker der Orthodoxie, ein Flaeins Ostpreußens, wie dieser
ein Slave. Anlässe, die Orthodoxie gegen Angriffe, die aus dem Schoß der
lutherischen Kirche selbst hervorgegangen waren, zu schützen, fehlten nicht. Sie
kamen zuerst von der Seite der Mystik. Die lutherische Orthodoxie hatte die
Wirksamkeit des heiligen Geistes in die Wirksamkeit der Gnadenmittel aufgehen
lassen. Die Mystik wollte jene nicht an diese gebunden wissen. Der Gegensatz
kam zum Ausbruch, als die Lehren der Mystik in Beziehung auf die heilige
Schrift vom Diakonus Rathmann in Danzig zur Geltung gebracht wurden.
Ein Nachspiel der Kämpfe, die sich an die Theologie Rathmanns geschlossen
hatten, fand in Ostpreußen statt. Die Ideen Rathmanns verfocht Pfarrer
Caspar Movius. Verweile mit voller Sympathie das Auge des Historikers
auf keiner von beiden Parteien, weil hier und da einseitige Positionen gewählt
waren, so fesselt uns auch keine der handelnden Persönlichkeiten, weder Myslenta,
der von der Domkanzel herab auf die Frechheit des Movius donnerte, da dieser es
gewagt hatte, während seiner Anwesenheit in Königsberg im Kneiphof unter
seinen Pfarrkindern Logis zu nehmen, noch Movius, der wegen zu heftiger
Führung des geistlichen Strafamtes mit seiner Gemeinde in Conflict gerathen
ist. Am unerquicklichsten ist die Art und Weise, in der die Controverse behandelt
wird; persönliche Interessen unterdrücken die sachlichen. Schließlich verläuft
sie im Sande. Größere Triumphe erfocht die Orthodoxie über einen anderen
Anhänger Rathmanns, den Organisten Michael Weyda, am Dom, der seines
Amtes entsetzt wurde, und über den Haberberger Diakonus Hermann Neuwald,
der der schwärmerischen Mystik Weigels huldigte, aber reuig zur reinen
Lehre zurückkehrte.

Ein höheres Interesse, als diese Bewegungen, erregen die Kämpfe, welche
sich an die kirchlichen Bestrebungen des großen Helmstedter Theologen Georg
Calixt knüpften. Unter den trüben Erfahrungen des dreißigjährigen Krieges
hatte Calixt eine Union der lutherischen, reformirten, und katholischen Kirche
in's Auge gefaßt. Die dogmatischen Bestimmungen der ersten fünf Jahrhunderte,
in deren Verlauf noch keine Irrthümer eingetreten seien, sollten die Grundlage
der Einheit bilden. Man kann den Gedanken Calixts als einen ungeschicht¬
lichen verwerfen und als aus einem utopistischen Idealismus entsprungen
mißbilligen; mau kann die Gefahren für das evangelisch-protestantische Prinzip,


in Königsberg und Ostpreußen mit unumschränkter Gewalt. Ihr hervorragendster
Führer war Myslenta, seit 1619 Professor der Theologie und der orientalischen
Sprachen an der Universität, seit 1622 zugleich Mitglied des Konsistoriums,
und seit 1626 auch Pfarrer am Dom. Er war ein ausgezeichneter Orientalist
und verdankte seiner hervorragenden Gelehrsamkeit, daß er sieben Mal das
Rektorat der Universität verwaltete. Aber er war anch ein maßlos leidenschaft-
licher Mann, ein Fanatiker der Orthodoxie, ein Flaeins Ostpreußens, wie dieser
ein Slave. Anlässe, die Orthodoxie gegen Angriffe, die aus dem Schoß der
lutherischen Kirche selbst hervorgegangen waren, zu schützen, fehlten nicht. Sie
kamen zuerst von der Seite der Mystik. Die lutherische Orthodoxie hatte die
Wirksamkeit des heiligen Geistes in die Wirksamkeit der Gnadenmittel aufgehen
lassen. Die Mystik wollte jene nicht an diese gebunden wissen. Der Gegensatz
kam zum Ausbruch, als die Lehren der Mystik in Beziehung auf die heilige
Schrift vom Diakonus Rathmann in Danzig zur Geltung gebracht wurden.
Ein Nachspiel der Kämpfe, die sich an die Theologie Rathmanns geschlossen
hatten, fand in Ostpreußen statt. Die Ideen Rathmanns verfocht Pfarrer
Caspar Movius. Verweile mit voller Sympathie das Auge des Historikers
auf keiner von beiden Parteien, weil hier und da einseitige Positionen gewählt
waren, so fesselt uns auch keine der handelnden Persönlichkeiten, weder Myslenta,
der von der Domkanzel herab auf die Frechheit des Movius donnerte, da dieser es
gewagt hatte, während seiner Anwesenheit in Königsberg im Kneiphof unter
seinen Pfarrkindern Logis zu nehmen, noch Movius, der wegen zu heftiger
Führung des geistlichen Strafamtes mit seiner Gemeinde in Conflict gerathen
ist. Am unerquicklichsten ist die Art und Weise, in der die Controverse behandelt
wird; persönliche Interessen unterdrücken die sachlichen. Schließlich verläuft
sie im Sande. Größere Triumphe erfocht die Orthodoxie über einen anderen
Anhänger Rathmanns, den Organisten Michael Weyda, am Dom, der seines
Amtes entsetzt wurde, und über den Haberberger Diakonus Hermann Neuwald,
der der schwärmerischen Mystik Weigels huldigte, aber reuig zur reinen
Lehre zurückkehrte.

Ein höheres Interesse, als diese Bewegungen, erregen die Kämpfe, welche
sich an die kirchlichen Bestrebungen des großen Helmstedter Theologen Georg
Calixt knüpften. Unter den trüben Erfahrungen des dreißigjährigen Krieges
hatte Calixt eine Union der lutherischen, reformirten, und katholischen Kirche
in's Auge gefaßt. Die dogmatischen Bestimmungen der ersten fünf Jahrhunderte,
in deren Verlauf noch keine Irrthümer eingetreten seien, sollten die Grundlage
der Einheit bilden. Man kann den Gedanken Calixts als einen ungeschicht¬
lichen verwerfen und als aus einem utopistischen Idealismus entsprungen
mißbilligen; mau kann die Gefahren für das evangelisch-protestantische Prinzip,


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[0132] in Königsberg und Ostpreußen mit unumschränkter Gewalt. Ihr hervorragendster Führer war Myslenta, seit 1619 Professor der Theologie und der orientalischen Sprachen an der Universität, seit 1622 zugleich Mitglied des Konsistoriums, und seit 1626 auch Pfarrer am Dom. Er war ein ausgezeichneter Orientalist und verdankte seiner hervorragenden Gelehrsamkeit, daß er sieben Mal das Rektorat der Universität verwaltete. Aber er war anch ein maßlos leidenschaft- licher Mann, ein Fanatiker der Orthodoxie, ein Flaeins Ostpreußens, wie dieser ein Slave. Anlässe, die Orthodoxie gegen Angriffe, die aus dem Schoß der lutherischen Kirche selbst hervorgegangen waren, zu schützen, fehlten nicht. Sie kamen zuerst von der Seite der Mystik. Die lutherische Orthodoxie hatte die Wirksamkeit des heiligen Geistes in die Wirksamkeit der Gnadenmittel aufgehen lassen. Die Mystik wollte jene nicht an diese gebunden wissen. Der Gegensatz kam zum Ausbruch, als die Lehren der Mystik in Beziehung auf die heilige Schrift vom Diakonus Rathmann in Danzig zur Geltung gebracht wurden. Ein Nachspiel der Kämpfe, die sich an die Theologie Rathmanns geschlossen hatten, fand in Ostpreußen statt. Die Ideen Rathmanns verfocht Pfarrer Caspar Movius. Verweile mit voller Sympathie das Auge des Historikers auf keiner von beiden Parteien, weil hier und da einseitige Positionen gewählt waren, so fesselt uns auch keine der handelnden Persönlichkeiten, weder Myslenta, der von der Domkanzel herab auf die Frechheit des Movius donnerte, da dieser es gewagt hatte, während seiner Anwesenheit in Königsberg im Kneiphof unter seinen Pfarrkindern Logis zu nehmen, noch Movius, der wegen zu heftiger Führung des geistlichen Strafamtes mit seiner Gemeinde in Conflict gerathen ist. Am unerquicklichsten ist die Art und Weise, in der die Controverse behandelt wird; persönliche Interessen unterdrücken die sachlichen. Schließlich verläuft sie im Sande. Größere Triumphe erfocht die Orthodoxie über einen anderen Anhänger Rathmanns, den Organisten Michael Weyda, am Dom, der seines Amtes entsetzt wurde, und über den Haberberger Diakonus Hermann Neuwald, der der schwärmerischen Mystik Weigels huldigte, aber reuig zur reinen Lehre zurückkehrte. Ein höheres Interesse, als diese Bewegungen, erregen die Kämpfe, welche sich an die kirchlichen Bestrebungen des großen Helmstedter Theologen Georg Calixt knüpften. Unter den trüben Erfahrungen des dreißigjährigen Krieges hatte Calixt eine Union der lutherischen, reformirten, und katholischen Kirche in's Auge gefaßt. Die dogmatischen Bestimmungen der ersten fünf Jahrhunderte, in deren Verlauf noch keine Irrthümer eingetreten seien, sollten die Grundlage der Einheit bilden. Man kann den Gedanken Calixts als einen ungeschicht¬ lichen verwerfen und als aus einem utopistischen Idealismus entsprungen mißbilligen; mau kann die Gefahren für das evangelisch-protestantische Prinzip,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/132>, abgerufen am 28.09.2024.