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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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wäre folglich zwei Millionen, bei 10 Sekunden aber 92 Millionen
Jahre.

Dieses Ergebniß würde wenig Vertrauen beanspruchen können, wenn wir
es nicht an einem andern physikalischen Verhältniß prüfen könnten, das uns
dieselbe Periode gleichfalls zu berechnen erlaubt, nämlich die Abkühlung der
Erde. Da uns die Gestalt, die Größe und die Temperatur der Erde, als die
letztere an der Oberfläche zu erstarren begann, hinlänglich bekannt siud, so
können wir, wenn wir für die übrigen hierbei in Betracht kommenden Größen,
z. B. für die spezifische Wärme und für die jetzige Dicke der Erdrinde die ver¬
schiedenen wahrscheinlichen Werthe einsetzen, die zwischen bestimmten Grenzen
liegende Mittelzahl für die Abkühlungszeit berechnen. Nehmen wir die Tem¬
peratur der Erde in der Zeit, wo sie als glühend heißer Ball geschmolznen
Metalls und Gesteins durch den Himmelsraum ging, mit Thomson zu 3000"
Reaumur an, so wird die ganze Zeit bis zu ihrem Festwerden nicht mehr als
98 Millionen Jahre betragen haben. Thomson bemerkt, selbst wenn man
jene UrHitze der Erde zu 4400° Reaumur annehmen wolle, könne die Ab¬
kühlungszeit doch im Maximum nur 400, im Minimum 20 Millionen Jahre
umfassen. Nach dem aber, was wir von dem Hitzegrade wissen, bei dem die
Gesteine schmelzen (derselbe beträgt bei Lavaströmen 2000") ist jene Zahl viel
zu hoch.

Wir sehen hieraus, daß selbst für die ganze Entwickelungsgeschichte der
Erde keineswegs unendlich große Zahlen Herauskommen, mögen wir auch für
die Faktoren, welche uns dieselbe zu berechnen gestatten, die größtmöglichen
Werthe einsetzen. Wir können jene Zahlen aber auch noch in anderer Weise
prüfen, indem wir für einzelne Formationen die Zeitdauer zu bestimmen suchen,
welche sie beanspruchten, und das gefundene Ergebniß mit den von Thomson
angegebenen Zahlen vergleichen. Bleiben wir bei 200 Millionen Jahren und
3000" Reaumur als Anfangstemperatur der Erde, so liegt auf der Hand, daß
der größte Theil der 200 Millionen Jahre auf die azoische Periode, d. h. die¬
jenige kommt, wo auf unserm Planeten kein Thierleben möglich war. Ein
solches konnte nach den bis jetzt vorliegenden Thatsachen erst entstehen, als die
Temperatur der Erdoberfläche auf etwa 50" Reaumur gesunken war. Nehmen
wir nun auch an, daß, um diese ungeheure Temperaturveränderung zu Stande
zu bringen, nur neun Zehntel der ganzen bis jetzt verflossenen Zeit erforderlich
gewesen wären, so bleiben uns für die Bildung sämmtlicher Schichtensysteme,
welche Versteinerungen enthalten, nur zwanzig Millionen Jahre. Vertheilen
wir diese wieder auf die zehn geologischen Perioden, Untersilur bis Neogen, so
fallen auf jede derselben durchschnittlich zwei Millionen Jahre, wenn wir den
höchsten Werth annehmen, dagegen nur 200,000 Jahre, wenn wir den geringsten


wäre folglich zwei Millionen, bei 10 Sekunden aber 92 Millionen
Jahre.

Dieses Ergebniß würde wenig Vertrauen beanspruchen können, wenn wir
es nicht an einem andern physikalischen Verhältniß prüfen könnten, das uns
dieselbe Periode gleichfalls zu berechnen erlaubt, nämlich die Abkühlung der
Erde. Da uns die Gestalt, die Größe und die Temperatur der Erde, als die
letztere an der Oberfläche zu erstarren begann, hinlänglich bekannt siud, so
können wir, wenn wir für die übrigen hierbei in Betracht kommenden Größen,
z. B. für die spezifische Wärme und für die jetzige Dicke der Erdrinde die ver¬
schiedenen wahrscheinlichen Werthe einsetzen, die zwischen bestimmten Grenzen
liegende Mittelzahl für die Abkühlungszeit berechnen. Nehmen wir die Tem¬
peratur der Erde in der Zeit, wo sie als glühend heißer Ball geschmolznen
Metalls und Gesteins durch den Himmelsraum ging, mit Thomson zu 3000«
Reaumur an, so wird die ganze Zeit bis zu ihrem Festwerden nicht mehr als
98 Millionen Jahre betragen haben. Thomson bemerkt, selbst wenn man
jene UrHitze der Erde zu 4400° Reaumur annehmen wolle, könne die Ab¬
kühlungszeit doch im Maximum nur 400, im Minimum 20 Millionen Jahre
umfassen. Nach dem aber, was wir von dem Hitzegrade wissen, bei dem die
Gesteine schmelzen (derselbe beträgt bei Lavaströmen 2000") ist jene Zahl viel
zu hoch.

Wir sehen hieraus, daß selbst für die ganze Entwickelungsgeschichte der
Erde keineswegs unendlich große Zahlen Herauskommen, mögen wir auch für
die Faktoren, welche uns dieselbe zu berechnen gestatten, die größtmöglichen
Werthe einsetzen. Wir können jene Zahlen aber auch noch in anderer Weise
prüfen, indem wir für einzelne Formationen die Zeitdauer zu bestimmen suchen,
welche sie beanspruchten, und das gefundene Ergebniß mit den von Thomson
angegebenen Zahlen vergleichen. Bleiben wir bei 200 Millionen Jahren und
3000" Reaumur als Anfangstemperatur der Erde, so liegt auf der Hand, daß
der größte Theil der 200 Millionen Jahre auf die azoische Periode, d. h. die¬
jenige kommt, wo auf unserm Planeten kein Thierleben möglich war. Ein
solches konnte nach den bis jetzt vorliegenden Thatsachen erst entstehen, als die
Temperatur der Erdoberfläche auf etwa 50" Reaumur gesunken war. Nehmen
wir nun auch an, daß, um diese ungeheure Temperaturveränderung zu Stande
zu bringen, nur neun Zehntel der ganzen bis jetzt verflossenen Zeit erforderlich
gewesen wären, so bleiben uns für die Bildung sämmtlicher Schichtensysteme,
welche Versteinerungen enthalten, nur zwanzig Millionen Jahre. Vertheilen
wir diese wieder auf die zehn geologischen Perioden, Untersilur bis Neogen, so
fallen auf jede derselben durchschnittlich zwei Millionen Jahre, wenn wir den
höchsten Werth annehmen, dagegen nur 200,000 Jahre, wenn wir den geringsten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/12>, abgerufen am 28.09.2024.