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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Wassersuchten und Verstopfungen der Unterleibsorgane waren die hauptsäch¬
lichsten Krankheiten, denen unsere Armee bei Adrianopel unterlag. Vor Allem
aber legten die Wechselfieber durch ihre Nachwehen, und besonders als sie sich
im Oktober mit Dysenterien verbanden, den Grund zum unvermeidlichen Tode.
Gewiß können sich vom ganzen Heere keine fünfhundert Mann rühmen, von
Wechselfiebern verschont geblieben zu sein; ja bei manchen, welche diese Krank¬
heit in der Türkei nicht gehabt hatten, brach sie mit großer Heftigkeit und
Hartnäckigkeit aus, als sie nach Rußland zurückgekehrt waren."

Die Heilkunst in Verbindung mit sorgfältiger Pflege vermag bei vereinzelten
Kranken viel. Wo ein oder mehrere Uebel in Gestalt von ansteckenden Seuchen
auftreten, wo die Kranken in engen Räumen dicht wie die Heringe nebeneinander,
geschichtet liegen und die Luft um sie, wie hier, die denkbar schlechteste ist, ist
nur in seltnen Fällen zu helfen, und die Leute sterben massenhaft. Arzenei
eingeben ist leicht. Viel schwieriger ist die sonstige Bedienung von Kranken, die, von
unglaublicher Mattigkeit und Schwäche befallen, dem Tode mit vollkommenster
Gleichgültigkeit entgegensehen und sich unaufhörlich verunreinigen. Man bedarf
dazu fast ebensoviel Gehülfen, als Kranke vorhanden sind, und einen ungeheuren
Vorrath von Wäsche. Die Befreiung der Luft aber von den giftschwangeren
Ausdünstungen der Patienten und ihrer Lagerstätten, ist selbst in geräumigen
geschlossenen Räumen mit keinem Desinfeetionsmittel zu erreichen. Die entsetzlich
schlechte Atmosphäre unterhält und verstärkt die vorhandene Krankheit trotz aller
Arzeneien, und sie vergiftet anch das Blut der Gesunden, die in ihr athmen
müssen. So war es auch in der großen Pesthöhle, in die sich das russische
Spital bei Adrianopel nach wenigen Wochen verwandelt hatte. Dr. v. Seydlitz
erzählt weiter:

"Im September gingen alle intermittirenden und remitierenden Fieber in
schnell tödtende Ruhr über, auch in der Genesung Begriffene wurden von ihr
ergriffen. Im Oktober starben in unseren: Spitale an ihr 1300 Kranke, weil
1500 Manu, die meist an diesem Uebel litten, aus Kirkilisse demselben zuge¬
wiesen worden waren. Vergebens hatte ich wiederholt Vorstellungen gegen die
Trcmslokation solcher dem Tode geweihter Kranken gemacht. Man erwiderte,
die Truppen, welche zum Rückmärsche von ihren vorgerückten Stellungen
befehligt seien, konnten doch ihre Kranken nicht mit sich führen. Aus den
Regimentern, welche noch nicht in Bewegung gesetzt wurden, kamen täglich
150 bis 200 nur mit Durchfällen behaftete Kranke bei uns an, die vor Schwäche
oft kaum das Spital zu erreichen im Stande waren. Der ganze Oktober zeichnete
sich durch abscheuliches naßkaltes Wetter aus, wobei unsere Kranken in den un¬
heizbaren Zimmern aus Mangel an gehöriger Bedeckung außerordentlich litten.
Aufgehalten durch die schlechten Wege und die unter den Leuten vom Troß


Wassersuchten und Verstopfungen der Unterleibsorgane waren die hauptsäch¬
lichsten Krankheiten, denen unsere Armee bei Adrianopel unterlag. Vor Allem
aber legten die Wechselfieber durch ihre Nachwehen, und besonders als sie sich
im Oktober mit Dysenterien verbanden, den Grund zum unvermeidlichen Tode.
Gewiß können sich vom ganzen Heere keine fünfhundert Mann rühmen, von
Wechselfiebern verschont geblieben zu sein; ja bei manchen, welche diese Krank¬
heit in der Türkei nicht gehabt hatten, brach sie mit großer Heftigkeit und
Hartnäckigkeit aus, als sie nach Rußland zurückgekehrt waren."

Die Heilkunst in Verbindung mit sorgfältiger Pflege vermag bei vereinzelten
Kranken viel. Wo ein oder mehrere Uebel in Gestalt von ansteckenden Seuchen
auftreten, wo die Kranken in engen Räumen dicht wie die Heringe nebeneinander,
geschichtet liegen und die Luft um sie, wie hier, die denkbar schlechteste ist, ist
nur in seltnen Fällen zu helfen, und die Leute sterben massenhaft. Arzenei
eingeben ist leicht. Viel schwieriger ist die sonstige Bedienung von Kranken, die, von
unglaublicher Mattigkeit und Schwäche befallen, dem Tode mit vollkommenster
Gleichgültigkeit entgegensehen und sich unaufhörlich verunreinigen. Man bedarf
dazu fast ebensoviel Gehülfen, als Kranke vorhanden sind, und einen ungeheuren
Vorrath von Wäsche. Die Befreiung der Luft aber von den giftschwangeren
Ausdünstungen der Patienten und ihrer Lagerstätten, ist selbst in geräumigen
geschlossenen Räumen mit keinem Desinfeetionsmittel zu erreichen. Die entsetzlich
schlechte Atmosphäre unterhält und verstärkt die vorhandene Krankheit trotz aller
Arzeneien, und sie vergiftet anch das Blut der Gesunden, die in ihr athmen
müssen. So war es auch in der großen Pesthöhle, in die sich das russische
Spital bei Adrianopel nach wenigen Wochen verwandelt hatte. Dr. v. Seydlitz
erzählt weiter:

„Im September gingen alle intermittirenden und remitierenden Fieber in
schnell tödtende Ruhr über, auch in der Genesung Begriffene wurden von ihr
ergriffen. Im Oktober starben in unseren: Spitale an ihr 1300 Kranke, weil
1500 Manu, die meist an diesem Uebel litten, aus Kirkilisse demselben zuge¬
wiesen worden waren. Vergebens hatte ich wiederholt Vorstellungen gegen die
Trcmslokation solcher dem Tode geweihter Kranken gemacht. Man erwiderte,
die Truppen, welche zum Rückmärsche von ihren vorgerückten Stellungen
befehligt seien, konnten doch ihre Kranken nicht mit sich führen. Aus den
Regimentern, welche noch nicht in Bewegung gesetzt wurden, kamen täglich
150 bis 200 nur mit Durchfällen behaftete Kranke bei uns an, die vor Schwäche
oft kaum das Spital zu erreichen im Stande waren. Der ganze Oktober zeichnete
sich durch abscheuliches naßkaltes Wetter aus, wobei unsere Kranken in den un¬
heizbaren Zimmern aus Mangel an gehöriger Bedeckung außerordentlich litten.
Aufgehalten durch die schlechten Wege und die unter den Leuten vom Troß


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[0116] Wassersuchten und Verstopfungen der Unterleibsorgane waren die hauptsäch¬ lichsten Krankheiten, denen unsere Armee bei Adrianopel unterlag. Vor Allem aber legten die Wechselfieber durch ihre Nachwehen, und besonders als sie sich im Oktober mit Dysenterien verbanden, den Grund zum unvermeidlichen Tode. Gewiß können sich vom ganzen Heere keine fünfhundert Mann rühmen, von Wechselfiebern verschont geblieben zu sein; ja bei manchen, welche diese Krank¬ heit in der Türkei nicht gehabt hatten, brach sie mit großer Heftigkeit und Hartnäckigkeit aus, als sie nach Rußland zurückgekehrt waren." Die Heilkunst in Verbindung mit sorgfältiger Pflege vermag bei vereinzelten Kranken viel. Wo ein oder mehrere Uebel in Gestalt von ansteckenden Seuchen auftreten, wo die Kranken in engen Räumen dicht wie die Heringe nebeneinander, geschichtet liegen und die Luft um sie, wie hier, die denkbar schlechteste ist, ist nur in seltnen Fällen zu helfen, und die Leute sterben massenhaft. Arzenei eingeben ist leicht. Viel schwieriger ist die sonstige Bedienung von Kranken, die, von unglaublicher Mattigkeit und Schwäche befallen, dem Tode mit vollkommenster Gleichgültigkeit entgegensehen und sich unaufhörlich verunreinigen. Man bedarf dazu fast ebensoviel Gehülfen, als Kranke vorhanden sind, und einen ungeheuren Vorrath von Wäsche. Die Befreiung der Luft aber von den giftschwangeren Ausdünstungen der Patienten und ihrer Lagerstätten, ist selbst in geräumigen geschlossenen Räumen mit keinem Desinfeetionsmittel zu erreichen. Die entsetzlich schlechte Atmosphäre unterhält und verstärkt die vorhandene Krankheit trotz aller Arzeneien, und sie vergiftet anch das Blut der Gesunden, die in ihr athmen müssen. So war es auch in der großen Pesthöhle, in die sich das russische Spital bei Adrianopel nach wenigen Wochen verwandelt hatte. Dr. v. Seydlitz erzählt weiter: „Im September gingen alle intermittirenden und remitierenden Fieber in schnell tödtende Ruhr über, auch in der Genesung Begriffene wurden von ihr ergriffen. Im Oktober starben in unseren: Spitale an ihr 1300 Kranke, weil 1500 Manu, die meist an diesem Uebel litten, aus Kirkilisse demselben zuge¬ wiesen worden waren. Vergebens hatte ich wiederholt Vorstellungen gegen die Trcmslokation solcher dem Tode geweihter Kranken gemacht. Man erwiderte, die Truppen, welche zum Rückmärsche von ihren vorgerückten Stellungen befehligt seien, konnten doch ihre Kranken nicht mit sich führen. Aus den Regimentern, welche noch nicht in Bewegung gesetzt wurden, kamen täglich 150 bis 200 nur mit Durchfällen behaftete Kranke bei uns an, die vor Schwäche oft kaum das Spital zu erreichen im Stande waren. Der ganze Oktober zeichnete sich durch abscheuliches naßkaltes Wetter aus, wobei unsere Kranken in den un¬ heizbaren Zimmern aus Mangel an gehöriger Bedeckung außerordentlich litten. Aufgehalten durch die schlechten Wege und die unter den Leuten vom Troß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/116>, abgerufen am 21.10.2024.