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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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denselben Elementen bestanden, haben sich mit äußerster Energie gegen die
deutschen Truppen geschlagen, und bei eiuer richtigen Behandlung würden noch
viel mehr dieser Truppen ebenso gehandelt haben. Als aber die Regierung
ihren moralischen Sieg vom 31. Oktober gar nicht ausbeutete, sondern die
Sachen gehen ließ, wie sie eben gingen, trat ganz natürlich eine allmälige
Zersetzung auch der besseren Elemente in der Nationalgarde ein. Auch eine
gut diseiplinirte Linienarmee würde unter solchen Umständen dem 'inneren
Verfall nicht haben entgehen können.

Zum eigentlichen Dienst vor dein Feinde wurde die Nationalgarde nicht
verwendet; dort, in der Feuerprobe der Gefahr würden bald die unnützen
Schlacken vom reinen Erze sich gesondert haben. Mit dem Bewußtsein redlicher
Pflichterfüllung würde das Selbstbewußtsein gewachsen, und der fried¬
fertige, allen Gewaltmaßregeln abholde Sinn der ordentlichen Bürgerschaft so
weit gehärtet worden sein, daß sie später mit frechem gewaltthätigen Gesindel
wenig Umstände gemacht hätte. So aber verzehrte sich die moralische Kraft
der besseren Bataillone in dem gefahrlosen Müssiggang des Wachdienstes auf
den inneren Linien. Trunk und Spiel vollendeten das Werk. Man bedenke
nur, daß jeden Tag, außer den festgesetzten Rationen, 50,000 Liter Wein ver¬
abreicht wurden. Alle Werkstätten feierten, es gab nirgend Geld zu verdienen.
Der Arbeiter meldete sich daher zur Aufnahme in die Nationalgarde; er erhielt
ein Gewehr, ein Käppi, einen Mantel, und mühelos empfing er von Stund
an nicht nur seine Ration, anderthalb Franken täglichen Sold, sondern auch
für seine Frau, für jedes Kind bekam er eine Anweisung auf tägliche Ration.
Allmälig gewöhnte er sich an das faule Leben auf der sonst gefahrlosen
Wachstube der Enceinte, die er auf halbe Tage mit der nahen Kneipe ver¬
tauschte. Er erhielt ja nicht nur Nahrung, sondern auch Wein und Schnaps,
wehr und besser, als er sich im Frieden gar manchmal mit redlicher Arbeit
verdient hatte; dazu noch obenein ein reichliches Taschengeld. Ans langer
Weile politisirte er, er hörte begierig die Reden der Klubschwätzer in seiner
Kompagnie. Von Zeit zu Zeit erschienen andere Redner. Die wußten zu
sprechen! da hörte er, wie man sein Leben lang ihn ausgebeutet, wie seine
Prinzipale, die nichts thaten, als Briefe schreiben und Bücher führen, von seiner
und der Seinen Arbeit sich gemästet. Jetzt sei der Moment gekommen, dies
W ändern: "die Bourgeois-Regierung ist so dumm gewesen, euch Waffen in
die Hand zu geben, gebt sie nicht wieder her, gebraucht sie!" Solches Leben
wußte auf die Dauer auch die besseren Naturen verderben. Wenn vor diesen
weindnftenden Wachstuben der inneren Linien die braven Regularen und
Mobilgarden vorbeimarschirten, um draußen auf Vorposten zu ziehen, dann
rief man ihnen wohl höhnisch zu: "Immer vorwärts, wenn's draußen schief


denselben Elementen bestanden, haben sich mit äußerster Energie gegen die
deutschen Truppen geschlagen, und bei eiuer richtigen Behandlung würden noch
viel mehr dieser Truppen ebenso gehandelt haben. Als aber die Regierung
ihren moralischen Sieg vom 31. Oktober gar nicht ausbeutete, sondern die
Sachen gehen ließ, wie sie eben gingen, trat ganz natürlich eine allmälige
Zersetzung auch der besseren Elemente in der Nationalgarde ein. Auch eine
gut diseiplinirte Linienarmee würde unter solchen Umständen dem 'inneren
Verfall nicht haben entgehen können.

Zum eigentlichen Dienst vor dein Feinde wurde die Nationalgarde nicht
verwendet; dort, in der Feuerprobe der Gefahr würden bald die unnützen
Schlacken vom reinen Erze sich gesondert haben. Mit dem Bewußtsein redlicher
Pflichterfüllung würde das Selbstbewußtsein gewachsen, und der fried¬
fertige, allen Gewaltmaßregeln abholde Sinn der ordentlichen Bürgerschaft so
weit gehärtet worden sein, daß sie später mit frechem gewaltthätigen Gesindel
wenig Umstände gemacht hätte. So aber verzehrte sich die moralische Kraft
der besseren Bataillone in dem gefahrlosen Müssiggang des Wachdienstes auf
den inneren Linien. Trunk und Spiel vollendeten das Werk. Man bedenke
nur, daß jeden Tag, außer den festgesetzten Rationen, 50,000 Liter Wein ver¬
abreicht wurden. Alle Werkstätten feierten, es gab nirgend Geld zu verdienen.
Der Arbeiter meldete sich daher zur Aufnahme in die Nationalgarde; er erhielt
ein Gewehr, ein Käppi, einen Mantel, und mühelos empfing er von Stund
an nicht nur seine Ration, anderthalb Franken täglichen Sold, sondern auch
für seine Frau, für jedes Kind bekam er eine Anweisung auf tägliche Ration.
Allmälig gewöhnte er sich an das faule Leben auf der sonst gefahrlosen
Wachstube der Enceinte, die er auf halbe Tage mit der nahen Kneipe ver¬
tauschte. Er erhielt ja nicht nur Nahrung, sondern auch Wein und Schnaps,
wehr und besser, als er sich im Frieden gar manchmal mit redlicher Arbeit
verdient hatte; dazu noch obenein ein reichliches Taschengeld. Ans langer
Weile politisirte er, er hörte begierig die Reden der Klubschwätzer in seiner
Kompagnie. Von Zeit zu Zeit erschienen andere Redner. Die wußten zu
sprechen! da hörte er, wie man sein Leben lang ihn ausgebeutet, wie seine
Prinzipale, die nichts thaten, als Briefe schreiben und Bücher führen, von seiner
und der Seinen Arbeit sich gemästet. Jetzt sei der Moment gekommen, dies
W ändern: „die Bourgeois-Regierung ist so dumm gewesen, euch Waffen in
die Hand zu geben, gebt sie nicht wieder her, gebraucht sie!" Solches Leben
wußte auf die Dauer auch die besseren Naturen verderben. Wenn vor diesen
weindnftenden Wachstuben der inneren Linien die braven Regularen und
Mobilgarden vorbeimarschirten, um draußen auf Vorposten zu ziehen, dann
rief man ihnen wohl höhnisch zu: „Immer vorwärts, wenn's draußen schief


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/89>, abgerufen am 27.09.2024.