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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Zukunft der Stadt wesentlich besser gestalten, vielleicht sie vor dem Feinde,
sicherlich aber vor den späteren Greueln bewahren können. Dennoch war ein
großer Theil der Linie und Marine sicher, gut disziplinirt und ihren Offizieren
ergeben. Der herrschende Belagerungszustand erlaubte, daß man sich der Führer
der verdächtigen Elemente bemächtigte. Eine schnelle Hinrichtung mußte ihrer
späteren Befreiung vorbeugen, und nie und nimmer durften die Nationalgarten
gewisser Stadtviertel bewaffnet werden. Aber der richtige Mann, der hier in
Wahrheit "ein Retter der Gesellschaft" geworden wäre, fehlte.

So beging man den verhängnißvollen Fehler die ganze Bevölkerung, auch
die anerkannt gefährlichsten Elemente, zu bewaffnen; ja dnrch die Eintheilung
des Stadtgebietes in die sogenannten Sektoren der Vertheidigung, entzog die
Regierung sich selbst die Möglichkeit, diese Elemente durch Theilung zu schwächen.
Sie bildeten unter ihren selbstgewählten Offizieren eine kompakte Masse, zu
Allem fähig -- nur zu Einem nicht: draußen auf Vorposten gegen den Feind
zu fechten! Schon im Monat September konnte die Regierung sich überzeugen,
welcher Geist in diesen Nationalgarten von Belleville, Montmartre und den
äußeren Barrieren steckte. Da war keine Spur von Muth und Vaterlandsliebe!
Am 19. September, während rings im Norden und Süden von Paris die
deutschen Geschütze krachten, und der eherne Ring der deutschen Armee sich
schloß um die bedrohte Stadt, meuterte das Bataillon, dem man den wichtigen
Mont Valerien anvertraut, erschlug oder verjagte seine Offiziere, und floh,
meist thierisch betrunken, nach Paris, während vor Rueil und Se. Cloud die
deutschen Avantgarden erschienen. Die schlaffe, aus unentschlossenen Theoretikern
bestehende Regierung wußte gegen solche Vorgänge kein anderes Mittel anzu¬
wenden, als daß sie den Nationalgarten das Recht einräumte, ihre Offiziere
selbst zu wählen. Einer dieser Minister von der traurigen Gestalt äußerte
dabei wörtlich: "Es liegt ja doch im eignen Interesse der Nationalgarde, daß
sie die würdigsten und besten Elemente zu ihren Führern wählt." -- So standen
sich denn von Anfang der Belagerung an zwei Armeen innerhalb der Stadt
gegenüber: die eine, aus den Linientruppen und den besseren Elementen des
Bürgerstandes zusammengesetzt, wünschte nichts mehr, als gegen den Feind
geführt zu werden und ihre Schuldigkeit zu thun. Die andere sparte sich auf
für eine Gelegenheit, die da kommen sollte, wie das geheime Comite", dem sie
gehorchte, versichert hatte. Theils aus Furcht, um diese unsaubern Geister bei
guter Laune zu erhalten, theils in lächerlicher Verblendung schmeichelte man
ihnen sogar. Viktor Hugo ließ sich in seinem hochtönenden Blödsinn also
vernehmen: "Seid schrecklich dem Feinde, o Ihr Patrioten, haltet nur an in
Eurem Siegeslaufe an der Hütte des Armen, um einen Kuß zu drücken ans
die Stirn seines schlafenden Kindes!" Das wurde geschrieben drei Tage, nachdem


Zukunft der Stadt wesentlich besser gestalten, vielleicht sie vor dem Feinde,
sicherlich aber vor den späteren Greueln bewahren können. Dennoch war ein
großer Theil der Linie und Marine sicher, gut disziplinirt und ihren Offizieren
ergeben. Der herrschende Belagerungszustand erlaubte, daß man sich der Führer
der verdächtigen Elemente bemächtigte. Eine schnelle Hinrichtung mußte ihrer
späteren Befreiung vorbeugen, und nie und nimmer durften die Nationalgarten
gewisser Stadtviertel bewaffnet werden. Aber der richtige Mann, der hier in
Wahrheit „ein Retter der Gesellschaft" geworden wäre, fehlte.

So beging man den verhängnißvollen Fehler die ganze Bevölkerung, auch
die anerkannt gefährlichsten Elemente, zu bewaffnen; ja dnrch die Eintheilung
des Stadtgebietes in die sogenannten Sektoren der Vertheidigung, entzog die
Regierung sich selbst die Möglichkeit, diese Elemente durch Theilung zu schwächen.
Sie bildeten unter ihren selbstgewählten Offizieren eine kompakte Masse, zu
Allem fähig — nur zu Einem nicht: draußen auf Vorposten gegen den Feind
zu fechten! Schon im Monat September konnte die Regierung sich überzeugen,
welcher Geist in diesen Nationalgarten von Belleville, Montmartre und den
äußeren Barrieren steckte. Da war keine Spur von Muth und Vaterlandsliebe!
Am 19. September, während rings im Norden und Süden von Paris die
deutschen Geschütze krachten, und der eherne Ring der deutschen Armee sich
schloß um die bedrohte Stadt, meuterte das Bataillon, dem man den wichtigen
Mont Valerien anvertraut, erschlug oder verjagte seine Offiziere, und floh,
meist thierisch betrunken, nach Paris, während vor Rueil und Se. Cloud die
deutschen Avantgarden erschienen. Die schlaffe, aus unentschlossenen Theoretikern
bestehende Regierung wußte gegen solche Vorgänge kein anderes Mittel anzu¬
wenden, als daß sie den Nationalgarten das Recht einräumte, ihre Offiziere
selbst zu wählen. Einer dieser Minister von der traurigen Gestalt äußerte
dabei wörtlich: „Es liegt ja doch im eignen Interesse der Nationalgarde, daß
sie die würdigsten und besten Elemente zu ihren Führern wählt." — So standen
sich denn von Anfang der Belagerung an zwei Armeen innerhalb der Stadt
gegenüber: die eine, aus den Linientruppen und den besseren Elementen des
Bürgerstandes zusammengesetzt, wünschte nichts mehr, als gegen den Feind
geführt zu werden und ihre Schuldigkeit zu thun. Die andere sparte sich auf
für eine Gelegenheit, die da kommen sollte, wie das geheime Comite", dem sie
gehorchte, versichert hatte. Theils aus Furcht, um diese unsaubern Geister bei
guter Laune zu erhalten, theils in lächerlicher Verblendung schmeichelte man
ihnen sogar. Viktor Hugo ließ sich in seinem hochtönenden Blödsinn also
vernehmen: „Seid schrecklich dem Feinde, o Ihr Patrioten, haltet nur an in
Eurem Siegeslaufe an der Hütte des Armen, um einen Kuß zu drücken ans
die Stirn seines schlafenden Kindes!" Das wurde geschrieben drei Tage, nachdem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/86>, abgerufen am 24.08.2024.