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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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zeitigen Schriften, welche anklagen und entschuldigen, angreifen und vertheidigen,
von unseren historischen Forschern noch nicht hinreichend untersucht und kritisirt
worden sind. Ja, wer kennt heute die ersten Erzeugnisse dieser Literatur, auf
denen die spätere Tradition beruht, vollstciudig? Wer hat sich der Mühe unter¬
zogen, sie einzeln auf ihre Autorschaft, auf die Quellen ihrer Information, auf
den Charakter ihrer Parteistellung hin zu prüfen? Nicht einmal ein Verzeichnis^,
das irgendwie brauchbar wäre, ist vorhanden. Und doch ist die Kenntniß dieser
gleichzeitigen Pamphlete eine ganz unerläßliche Vorbedingung für eine
wissenschaftliche Geschichte der großen Epoche 1807--1815. Ich bezeichne einige
Produkte dieser Literatur, indem ich das Heransgreife, was nur gerade augen¬
blicklich zur Hand ist. Hierher gehört die weitläufige Schriftstellerei des Herren
Friedrich von Cölln, z. B. seine "Vertrauten Briefe" seine "Feuerbrände"
und die mit ihnen zusammenhängenden "Feuerschirme" und "Löscheimer;" hierher
gehören einzelne Machwerke aus der Feder des durch Varnhagen's Buch bekannter
gewordenen Hans von Held; auch die seltsamen aber lehrreichen Schriften des
Publizisten Friedrich Buch holz aus jenen Jahren sind hierher zu rechnen.
Alle diese literarischen Erzeugnisse patriotischen Eifers sowohl als persönlicher
Schmähsncht werden im Detail als historische Quellen erst noch zu untersuchen
und zu kritisiren sein. Die 1808 anonym erschienene "Gallerie preußischer
Charaktere" (deren Verfasser doch wohl der Herausgeber des "Telegraphen",
der Literat Julius Lauge ist) verräth unter allen die leidenschaftlichste Bosheit,
aber ebenso eine intimere Kenntniß mancher höfischen und amtlichen Vorgänge.
"Die Charakteristik Friedrich Wilhelm III. und der bedeutendsten Personen an
seinem Hofe" (1808, ebenfalls anonym) dürste keineswegs übergangen oder
unbeachtet bleiben.*) Eine andre Klasse von Publikationen wird eröffnet durch
Ephraim's inhaltreiche und wohl unterrichtete Schrift "über meine Verhaftung
und ewige andre Vorfälle meines Lebens" (1807); auf die Krisen welche vor
der Katastrophe die Staatsleitung durchzumachen hatte, fällt hier schon dankens-
werthes Licht. Verglichen mit dieser kleinen werthvollen Flugschrift machen
die zahlreichen und langathmigen Auslassungen des Obristen von Massenbach,
einen höchst unerquicklichen Eindruck; maßlose Selbstüberhebung und prahlerische



Nicht unberechtigt wird mau die Erwartung schelten dürfen, daß die von der Historischen
Commission pnblizirte "Allgemeine Deutsche Biographie", die eine so stattliche Reihe
namhafter Historiker zu Mitarbeitern zählt, anch über die hier berührten Schriftsteller einige
brauchbaren Angaben liefern sollte. Da ist nun aber Cölln ganz Übergängen !! bei Buchholz
speist man uns mit der Charakteristik "Publizist" ab, ohne irgend welche Bezeichnung in
welcher Richtung er publizistisch thätig gewesen. Die charakteristischste und merkwürdigste aller
seiner Schriften ("der neue Leviathan") hätte keinenfalls in der Auswahl der namentlich
aufgeführten Bücher fehlen dürfen. Ueberhaupt die Art und Weise, in welcher hier die
neuere preußische Geschichte trnktirt wird, ist mehr wie auffallend.

zeitigen Schriften, welche anklagen und entschuldigen, angreifen und vertheidigen,
von unseren historischen Forschern noch nicht hinreichend untersucht und kritisirt
worden sind. Ja, wer kennt heute die ersten Erzeugnisse dieser Literatur, auf
denen die spätere Tradition beruht, vollstciudig? Wer hat sich der Mühe unter¬
zogen, sie einzeln auf ihre Autorschaft, auf die Quellen ihrer Information, auf
den Charakter ihrer Parteistellung hin zu prüfen? Nicht einmal ein Verzeichnis^,
das irgendwie brauchbar wäre, ist vorhanden. Und doch ist die Kenntniß dieser
gleichzeitigen Pamphlete eine ganz unerläßliche Vorbedingung für eine
wissenschaftliche Geschichte der großen Epoche 1807—1815. Ich bezeichne einige
Produkte dieser Literatur, indem ich das Heransgreife, was nur gerade augen¬
blicklich zur Hand ist. Hierher gehört die weitläufige Schriftstellerei des Herren
Friedrich von Cölln, z. B. seine „Vertrauten Briefe" seine „Feuerbrände"
und die mit ihnen zusammenhängenden „Feuerschirme" und „Löscheimer;" hierher
gehören einzelne Machwerke aus der Feder des durch Varnhagen's Buch bekannter
gewordenen Hans von Held; auch die seltsamen aber lehrreichen Schriften des
Publizisten Friedrich Buch holz aus jenen Jahren sind hierher zu rechnen.
Alle diese literarischen Erzeugnisse patriotischen Eifers sowohl als persönlicher
Schmähsncht werden im Detail als historische Quellen erst noch zu untersuchen
und zu kritisiren sein. Die 1808 anonym erschienene „Gallerie preußischer
Charaktere" (deren Verfasser doch wohl der Herausgeber des „Telegraphen",
der Literat Julius Lauge ist) verräth unter allen die leidenschaftlichste Bosheit,
aber ebenso eine intimere Kenntniß mancher höfischen und amtlichen Vorgänge.
„Die Charakteristik Friedrich Wilhelm III. und der bedeutendsten Personen an
seinem Hofe" (1808, ebenfalls anonym) dürste keineswegs übergangen oder
unbeachtet bleiben.*) Eine andre Klasse von Publikationen wird eröffnet durch
Ephraim's inhaltreiche und wohl unterrichtete Schrift „über meine Verhaftung
und ewige andre Vorfälle meines Lebens" (1807); auf die Krisen welche vor
der Katastrophe die Staatsleitung durchzumachen hatte, fällt hier schon dankens-
werthes Licht. Verglichen mit dieser kleinen werthvollen Flugschrift machen
die zahlreichen und langathmigen Auslassungen des Obristen von Massenbach,
einen höchst unerquicklichen Eindruck; maßlose Selbstüberhebung und prahlerische



Nicht unberechtigt wird mau die Erwartung schelten dürfen, daß die von der Historischen
Commission pnblizirte „Allgemeine Deutsche Biographie", die eine so stattliche Reihe
namhafter Historiker zu Mitarbeitern zählt, anch über die hier berührten Schriftsteller einige
brauchbaren Angaben liefern sollte. Da ist nun aber Cölln ganz Übergängen !! bei Buchholz
speist man uns mit der Charakteristik „Publizist" ab, ohne irgend welche Bezeichnung in
welcher Richtung er publizistisch thätig gewesen. Die charakteristischste und merkwürdigste aller
seiner Schriften („der neue Leviathan") hätte keinenfalls in der Auswahl der namentlich
aufgeführten Bücher fehlen dürfen. Ueberhaupt die Art und Weise, in welcher hier die
neuere preußische Geschichte trnktirt wird, ist mehr wie auffallend.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/6>, abgerufen am 26.06.2024.