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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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wird, daß Massen von Arbeitern, welche in Zeiten industriellen Aufschwungs, Zeiten
des Schwindels vielleicht, ihnen mittelst vorübergehender hoher Löhne weggelockt wor¬
den sind, in den folgenden Zeiten der Krise und des Krachs zur Ernährung ihnen wie¬
der zugesandt werden, vielleicht mit verderbten Sitten und krankhaften Kindern.
Es ist eine schreiende Unbilligkeit, daß Burschen, welche mit 16--17 Jahren
schon ihr Heimathsdorf verließen, um in einer anderen Gemeinde in den Dienst
der Industrie zu treten, etwa mit dem 25. oder 26. Lebensjahre als unter¬
stützungsberechtigte Angehörige mit Frau und Kind dem "Heimathsdorfe"
wieder aufgedrängt werden. Wenn über ein solches Mißverstündniß von ländlicher
Seite schon lange bittere Klage geführt wird, so kann das nicht Wunder nehmen."
("Köln. Ztg." vom 16. Juni d. I.) Unseres Erachtens läßt sich an dieser
Deduktion nicht rütteln. In ihren Geleisen aber bewegt sich das Denken und
Erwägen großer Volkskreise, und es haben deßhalb die gesetzgebenden Faktoren
sorgsam zu prüfen, ob nicht dieser Stimmung legislatorisch Rechnung zu tragen
sei. Mit der Aufnahme des von uns unter Ziffer 1 aufgeführten Punktes in
unsere Gesetzesvorlage hat sich der Reichskanzler in bejahendem Sinne entschieden,
unserer Ueberzeugung nach mit Fug und Recht.

Schon oben wurde aus den Motiven zum Gesetzesvorschlag erwähnt, daß
auch die Festsetzung des zum Erwerb und Verlust des Unterstützungswohn¬
sitzes erforderlichen Lebensalters (zurückgelegtes 24. Lebensjahr) vielfach als
nicht richtig bemessen erachtet werde. Wir glauben getrost behaupten zu können,
daß nichts die ursprüngliche sogen. Heimathgemeinde oder auch die Gemeinde
des Unterstützungswohnsitzes derart verbittert und mißstimmt, als wenn Leute,
die vielleicht sofort nach ihrer Schulentlassung aus der Gemeinde weggezogen
waren, im Alter von 24 bis 25 Jahren mit Weib und Kind, krank, mit
gebrochener Körperkraft, vielleicht für Jahrzehnte unterstützungsbedürftig, der
"Heimathgemeinde", der Gemeinde des Unterstützungswohnsitzes zugewiesen werden.
Soweit unsere Wahrnehmungen reichen, ist auch die Herabsetzung vom 24. auf
das 21. Lebensjahr der am wenigsten umstrittene Punkt des Novellen-Vorschlags.
Seine Aufnahme in die Vorlage wird demnach, wie es scheint, am meisten
gerechtfertigt erachtet.

Der Landarmeuverband hat hauptsächlich den Wunsch, daß die Zahl der
ihm zugetheilten, erfahrungsmäßig am schwierigsten zu behandelnden Armen
nicht allzu sehr wachse. Wir können nicht annehmen, daß in Folge der pro-
jektirten Gesetzesänderung ein solches Wachsthum eintrete.

Eine Klage noch, gleichmäßig von allen Armenverbänden vernommen, ver¬
dient gehört zu werden. Es ist die über Geschäftsbelastung in Folge der zeit¬
raubenden Feststellungen und Verhandlungen über vorhandenen oder fehlenden
Unterstützungswohnsitz, über Anerkennung oder Ablehnung der Unterstützungs-


wird, daß Massen von Arbeitern, welche in Zeiten industriellen Aufschwungs, Zeiten
des Schwindels vielleicht, ihnen mittelst vorübergehender hoher Löhne weggelockt wor¬
den sind, in den folgenden Zeiten der Krise und des Krachs zur Ernährung ihnen wie¬
der zugesandt werden, vielleicht mit verderbten Sitten und krankhaften Kindern.
Es ist eine schreiende Unbilligkeit, daß Burschen, welche mit 16—17 Jahren
schon ihr Heimathsdorf verließen, um in einer anderen Gemeinde in den Dienst
der Industrie zu treten, etwa mit dem 25. oder 26. Lebensjahre als unter¬
stützungsberechtigte Angehörige mit Frau und Kind dem „Heimathsdorfe"
wieder aufgedrängt werden. Wenn über ein solches Mißverstündniß von ländlicher
Seite schon lange bittere Klage geführt wird, so kann das nicht Wunder nehmen."
(„Köln. Ztg." vom 16. Juni d. I.) Unseres Erachtens läßt sich an dieser
Deduktion nicht rütteln. In ihren Geleisen aber bewegt sich das Denken und
Erwägen großer Volkskreise, und es haben deßhalb die gesetzgebenden Faktoren
sorgsam zu prüfen, ob nicht dieser Stimmung legislatorisch Rechnung zu tragen
sei. Mit der Aufnahme des von uns unter Ziffer 1 aufgeführten Punktes in
unsere Gesetzesvorlage hat sich der Reichskanzler in bejahendem Sinne entschieden,
unserer Ueberzeugung nach mit Fug und Recht.

Schon oben wurde aus den Motiven zum Gesetzesvorschlag erwähnt, daß
auch die Festsetzung des zum Erwerb und Verlust des Unterstützungswohn¬
sitzes erforderlichen Lebensalters (zurückgelegtes 24. Lebensjahr) vielfach als
nicht richtig bemessen erachtet werde. Wir glauben getrost behaupten zu können,
daß nichts die ursprüngliche sogen. Heimathgemeinde oder auch die Gemeinde
des Unterstützungswohnsitzes derart verbittert und mißstimmt, als wenn Leute,
die vielleicht sofort nach ihrer Schulentlassung aus der Gemeinde weggezogen
waren, im Alter von 24 bis 25 Jahren mit Weib und Kind, krank, mit
gebrochener Körperkraft, vielleicht für Jahrzehnte unterstützungsbedürftig, der
„Heimathgemeinde", der Gemeinde des Unterstützungswohnsitzes zugewiesen werden.
Soweit unsere Wahrnehmungen reichen, ist auch die Herabsetzung vom 24. auf
das 21. Lebensjahr der am wenigsten umstrittene Punkt des Novellen-Vorschlags.
Seine Aufnahme in die Vorlage wird demnach, wie es scheint, am meisten
gerechtfertigt erachtet.

Der Landarmeuverband hat hauptsächlich den Wunsch, daß die Zahl der
ihm zugetheilten, erfahrungsmäßig am schwierigsten zu behandelnden Armen
nicht allzu sehr wachse. Wir können nicht annehmen, daß in Folge der pro-
jektirten Gesetzesänderung ein solches Wachsthum eintrete.

Eine Klage noch, gleichmäßig von allen Armenverbänden vernommen, ver¬
dient gehört zu werden. Es ist die über Geschäftsbelastung in Folge der zeit¬
raubenden Feststellungen und Verhandlungen über vorhandenen oder fehlenden
Unterstützungswohnsitz, über Anerkennung oder Ablehnung der Unterstützungs-


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[0052] wird, daß Massen von Arbeitern, welche in Zeiten industriellen Aufschwungs, Zeiten des Schwindels vielleicht, ihnen mittelst vorübergehender hoher Löhne weggelockt wor¬ den sind, in den folgenden Zeiten der Krise und des Krachs zur Ernährung ihnen wie¬ der zugesandt werden, vielleicht mit verderbten Sitten und krankhaften Kindern. Es ist eine schreiende Unbilligkeit, daß Burschen, welche mit 16—17 Jahren schon ihr Heimathsdorf verließen, um in einer anderen Gemeinde in den Dienst der Industrie zu treten, etwa mit dem 25. oder 26. Lebensjahre als unter¬ stützungsberechtigte Angehörige mit Frau und Kind dem „Heimathsdorfe" wieder aufgedrängt werden. Wenn über ein solches Mißverstündniß von ländlicher Seite schon lange bittere Klage geführt wird, so kann das nicht Wunder nehmen." („Köln. Ztg." vom 16. Juni d. I.) Unseres Erachtens läßt sich an dieser Deduktion nicht rütteln. In ihren Geleisen aber bewegt sich das Denken und Erwägen großer Volkskreise, und es haben deßhalb die gesetzgebenden Faktoren sorgsam zu prüfen, ob nicht dieser Stimmung legislatorisch Rechnung zu tragen sei. Mit der Aufnahme des von uns unter Ziffer 1 aufgeführten Punktes in unsere Gesetzesvorlage hat sich der Reichskanzler in bejahendem Sinne entschieden, unserer Ueberzeugung nach mit Fug und Recht. Schon oben wurde aus den Motiven zum Gesetzesvorschlag erwähnt, daß auch die Festsetzung des zum Erwerb und Verlust des Unterstützungswohn¬ sitzes erforderlichen Lebensalters (zurückgelegtes 24. Lebensjahr) vielfach als nicht richtig bemessen erachtet werde. Wir glauben getrost behaupten zu können, daß nichts die ursprüngliche sogen. Heimathgemeinde oder auch die Gemeinde des Unterstützungswohnsitzes derart verbittert und mißstimmt, als wenn Leute, die vielleicht sofort nach ihrer Schulentlassung aus der Gemeinde weggezogen waren, im Alter von 24 bis 25 Jahren mit Weib und Kind, krank, mit gebrochener Körperkraft, vielleicht für Jahrzehnte unterstützungsbedürftig, der „Heimathgemeinde", der Gemeinde des Unterstützungswohnsitzes zugewiesen werden. Soweit unsere Wahrnehmungen reichen, ist auch die Herabsetzung vom 24. auf das 21. Lebensjahr der am wenigsten umstrittene Punkt des Novellen-Vorschlags. Seine Aufnahme in die Vorlage wird demnach, wie es scheint, am meisten gerechtfertigt erachtet. Der Landarmeuverband hat hauptsächlich den Wunsch, daß die Zahl der ihm zugetheilten, erfahrungsmäßig am schwierigsten zu behandelnden Armen nicht allzu sehr wachse. Wir können nicht annehmen, daß in Folge der pro- jektirten Gesetzesänderung ein solches Wachsthum eintrete. Eine Klage noch, gleichmäßig von allen Armenverbänden vernommen, ver¬ dient gehört zu werden. Es ist die über Geschäftsbelastung in Folge der zeit¬ raubenden Feststellungen und Verhandlungen über vorhandenen oder fehlenden Unterstützungswohnsitz, über Anerkennung oder Ablehnung der Unterstützungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/52>, abgerufen am 25.08.2024.