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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Abhandlung über die öffentlichen Arbeiten, den Ackerbau, die In¬
dustrie, die Schifffahrt und den Handel der Türkei. Wie es mit
diesen Zweigen und Quelle" des Nationalreichthums und der Nationalwohl¬
fahrt im türkischen Reiche beschaffen ist, das wird uns schon sehr anschaulich
gemacht in der ersten, von uns eingehend besprochenen Abhandlung des Buches,
der Verwaltung der Provinzen des osmanischen Reiches. Aber der Raubbau,
den der Vali mit der Produktionskraft seiner Provinz treibt, ist auch hier noch
lauge nicht das schlimmste. Weit schlimmer wirkt die geflissentliche Mißachtung
aller volkswirthschaftlichen Gesetze durch den Staat. Riesige Binnenzölle
werden von jeder Waare an der Grenze jeder Provinz erhoben. Mit nichten
wird dafür irgend eine Gegenleistung durch Verbesserung der Verkehrswege
oder des Staatsschutzes gewährt. Dieselben unnatürlichen Plackereien hat
jedes Produkt der Industrie, jedes Seehandel oder Flußschifffahrt treibende
Fahrzeug zu gewärtigen. Und zu alledem tritt noch die unleidliche Begünsti¬
gung des türkischen Mohammedaners gegenüber allen andern Unterthanen des
weiten Reiches. Alles das zusammengenommen gibt dem türkischen Sprichwort
Recht: "Wohin der Osmane seinen Fuß setzt, da wächst kein Gras mehr."

Vielleicht sind aber doch die interessantesten und anziehendsten Blätter
unsres Buches diejenigen, auf denen verflicht wird, in wenigen kräftigen Strichen
die Charakterbilder von Männern zu zeichnen, welche in dem allgemeinen
Verfall ihres Staates noch Muth und Thatkraft genug besaßen, den Sturz
des Kolosses aufzuhalten, wohl gar ihn durch neue Grundlagen von neuem
zu stützen. Die Leistungen dieser Männer stehen um so höher, als ihnen fast
alle jene sittlichen Mächte fehlen, die einen Abendländer zu den höchsten An¬
strengungen patriotischen Opfermuthes begeistern. Ein Vaterland hat der
Orientale nicht und hat es nie gekannt. Der Begriff der Ehre ist ihm völlig
fremd. Die gläubige Verehrung für das staatliche und religiöse Oberhaupt
der gesummten Nation ist längst dem skeptischen Zorn über die an Narrheit
grenzende Launenhaftigkeit und Genußsucht des Herrschers gewichen. Verächt¬
licher und pietätloser kann kein abendländischer Sozialist über die gekrönten
"Tyrannen" fluchen, als der Verfasser unsres Buches über die letzten Vorgänger
des heutigen Sultans. Das Recht der Entthronung des Herrschers, sobald er
das Gesetz verletzt, leitet er mit Entschiedenheit ab aus der heiligen Grund-
orduung des osmanischen Glaubensstaates. Selbst das "Sairsti VW", der
unwiderstehliche Glaubenseifer, welcher den schlichten türkischen Soldaten be¬
fähigt Strapazen, Qualen und Todesgefahren ohne Gleichen gehobenen Muthes
zu bestehen, selbst dieser ist den Staatsmännern der modernen Türkei, von
denen hier die Rede ist, längst abhanden gekommen. Eher sind sie Nihilisten
als gläubige Muhammedaner. Wenn sie trotz alledem in so hervorragender


Abhandlung über die öffentlichen Arbeiten, den Ackerbau, die In¬
dustrie, die Schifffahrt und den Handel der Türkei. Wie es mit
diesen Zweigen und Quelle» des Nationalreichthums und der Nationalwohl¬
fahrt im türkischen Reiche beschaffen ist, das wird uns schon sehr anschaulich
gemacht in der ersten, von uns eingehend besprochenen Abhandlung des Buches,
der Verwaltung der Provinzen des osmanischen Reiches. Aber der Raubbau,
den der Vali mit der Produktionskraft seiner Provinz treibt, ist auch hier noch
lauge nicht das schlimmste. Weit schlimmer wirkt die geflissentliche Mißachtung
aller volkswirthschaftlichen Gesetze durch den Staat. Riesige Binnenzölle
werden von jeder Waare an der Grenze jeder Provinz erhoben. Mit nichten
wird dafür irgend eine Gegenleistung durch Verbesserung der Verkehrswege
oder des Staatsschutzes gewährt. Dieselben unnatürlichen Plackereien hat
jedes Produkt der Industrie, jedes Seehandel oder Flußschifffahrt treibende
Fahrzeug zu gewärtigen. Und zu alledem tritt noch die unleidliche Begünsti¬
gung des türkischen Mohammedaners gegenüber allen andern Unterthanen des
weiten Reiches. Alles das zusammengenommen gibt dem türkischen Sprichwort
Recht: „Wohin der Osmane seinen Fuß setzt, da wächst kein Gras mehr."

Vielleicht sind aber doch die interessantesten und anziehendsten Blätter
unsres Buches diejenigen, auf denen verflicht wird, in wenigen kräftigen Strichen
die Charakterbilder von Männern zu zeichnen, welche in dem allgemeinen
Verfall ihres Staates noch Muth und Thatkraft genug besaßen, den Sturz
des Kolosses aufzuhalten, wohl gar ihn durch neue Grundlagen von neuem
zu stützen. Die Leistungen dieser Männer stehen um so höher, als ihnen fast
alle jene sittlichen Mächte fehlen, die einen Abendländer zu den höchsten An¬
strengungen patriotischen Opfermuthes begeistern. Ein Vaterland hat der
Orientale nicht und hat es nie gekannt. Der Begriff der Ehre ist ihm völlig
fremd. Die gläubige Verehrung für das staatliche und religiöse Oberhaupt
der gesummten Nation ist längst dem skeptischen Zorn über die an Narrheit
grenzende Launenhaftigkeit und Genußsucht des Herrschers gewichen. Verächt¬
licher und pietätloser kann kein abendländischer Sozialist über die gekrönten
„Tyrannen" fluchen, als der Verfasser unsres Buches über die letzten Vorgänger
des heutigen Sultans. Das Recht der Entthronung des Herrschers, sobald er
das Gesetz verletzt, leitet er mit Entschiedenheit ab aus der heiligen Grund-
orduung des osmanischen Glaubensstaates. Selbst das „Sairsti VW", der
unwiderstehliche Glaubenseifer, welcher den schlichten türkischen Soldaten be¬
fähigt Strapazen, Qualen und Todesgefahren ohne Gleichen gehobenen Muthes
zu bestehen, selbst dieser ist den Staatsmännern der modernen Türkei, von
denen hier die Rede ist, längst abhanden gekommen. Eher sind sie Nihilisten
als gläubige Muhammedaner. Wenn sie trotz alledem in so hervorragender


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[0519] Abhandlung über die öffentlichen Arbeiten, den Ackerbau, die In¬ dustrie, die Schifffahrt und den Handel der Türkei. Wie es mit diesen Zweigen und Quelle» des Nationalreichthums und der Nationalwohl¬ fahrt im türkischen Reiche beschaffen ist, das wird uns schon sehr anschaulich gemacht in der ersten, von uns eingehend besprochenen Abhandlung des Buches, der Verwaltung der Provinzen des osmanischen Reiches. Aber der Raubbau, den der Vali mit der Produktionskraft seiner Provinz treibt, ist auch hier noch lauge nicht das schlimmste. Weit schlimmer wirkt die geflissentliche Mißachtung aller volkswirthschaftlichen Gesetze durch den Staat. Riesige Binnenzölle werden von jeder Waare an der Grenze jeder Provinz erhoben. Mit nichten wird dafür irgend eine Gegenleistung durch Verbesserung der Verkehrswege oder des Staatsschutzes gewährt. Dieselben unnatürlichen Plackereien hat jedes Produkt der Industrie, jedes Seehandel oder Flußschifffahrt treibende Fahrzeug zu gewärtigen. Und zu alledem tritt noch die unleidliche Begünsti¬ gung des türkischen Mohammedaners gegenüber allen andern Unterthanen des weiten Reiches. Alles das zusammengenommen gibt dem türkischen Sprichwort Recht: „Wohin der Osmane seinen Fuß setzt, da wächst kein Gras mehr." Vielleicht sind aber doch die interessantesten und anziehendsten Blätter unsres Buches diejenigen, auf denen verflicht wird, in wenigen kräftigen Strichen die Charakterbilder von Männern zu zeichnen, welche in dem allgemeinen Verfall ihres Staates noch Muth und Thatkraft genug besaßen, den Sturz des Kolosses aufzuhalten, wohl gar ihn durch neue Grundlagen von neuem zu stützen. Die Leistungen dieser Männer stehen um so höher, als ihnen fast alle jene sittlichen Mächte fehlen, die einen Abendländer zu den höchsten An¬ strengungen patriotischen Opfermuthes begeistern. Ein Vaterland hat der Orientale nicht und hat es nie gekannt. Der Begriff der Ehre ist ihm völlig fremd. Die gläubige Verehrung für das staatliche und religiöse Oberhaupt der gesummten Nation ist längst dem skeptischen Zorn über die an Narrheit grenzende Launenhaftigkeit und Genußsucht des Herrschers gewichen. Verächt¬ licher und pietätloser kann kein abendländischer Sozialist über die gekrönten „Tyrannen" fluchen, als der Verfasser unsres Buches über die letzten Vorgänger des heutigen Sultans. Das Recht der Entthronung des Herrschers, sobald er das Gesetz verletzt, leitet er mit Entschiedenheit ab aus der heiligen Grund- orduung des osmanischen Glaubensstaates. Selbst das „Sairsti VW", der unwiderstehliche Glaubenseifer, welcher den schlichten türkischen Soldaten be¬ fähigt Strapazen, Qualen und Todesgefahren ohne Gleichen gehobenen Muthes zu bestehen, selbst dieser ist den Staatsmännern der modernen Türkei, von denen hier die Rede ist, längst abhanden gekommen. Eher sind sie Nihilisten als gläubige Muhammedaner. Wenn sie trotz alledem in so hervorragender

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/519>, abgerufen am 25.08.2024.