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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Türkische Politik und Staatswirtljschast.
ii.

Wohl das am wenigsten probehaltige Kapitel des interessanten Buches,
dem wir unsere vorigen Schilderungen entnahmen*), ist dasjenige über die
"auswärtigen Verhältnisse und die (europäische) Diplomatie."
Diese Abhandlung ist immer noch wesentlich beherrscht von der jahrhundertelang
durch nichts gestörten Vorstellung der Türken, daß jeder Vertreter einer aus¬
wärtigen Macht dem Beherrscher aller Gläubigen nicht anders nahen dürfe,
wie jeder andere Sklave -- alle türkischen Unterthanen waren Slaven der
Großherren. Der Verfasser hält die grenzenlose Verachtung, welche die
Minister des türkischen Auswärtigen Amts so oft sie nur irgend können,
der europäische" Diplomatie erweisen und den gottgefälligen Treubruch, den sie
bei jedem Stantsvertrag mit anderen Mächten fröhlich im Herzen tragen, für
die starken Seiten der ottomanischen Diplomatie. Wie wenig mit Recht,
zeigt die jetzt über die Türkei hereingebrochene Katastrophe, weist der Verfasser
selbst in seiner sehr lesenswerthen Abhandlung über die türkische Finanzver¬
waltung schlagend uach. Solche Urtheile vollends wie das eine, (S. 11<>)
daß "die europäische Diplomatie sich 25 Jahre lang von der russischen habe
an der Nase herumführen lassen, die türkische aber sich der europäischen weit
überlegen gezeigt habe" daß die ganze Diplomatie "von der orientalischen
Frage nichts verstehe" (S. 120), zeigen eine Einseitigkeit, die sonst diesem Buche
fremd ist. Grobe Mißgriffe der europäischen Diplomatie, wie der Verfasser
sie zahlreich aufzählt, ebenso unsinniges diplomatisches Wüthen der Pforte gegen
den natürlichen Bundesgenossen (England), sogar landesverrätherisches Einver¬
ständnis) gewisser türkischer Minister mit Rußland, Erscheinungen, die der
Verfasser an den interessantesten Einzelheiten belegt, sind recht wohl möglich,
ohne daß der Türkei die erste Violine im diplomatischen Konzert zugestanden
zu werden braucht. Namentlich ist die geringschätzige Meinung des Verfassers
vom Dreikaiserbüudniß und den diplomatischen Künsten, die dasselbe zu
Wege brachten (S. 134 ff. 139), nicht die reifste, die der Versasser zu Tage
fördert.

Wahrhaft glänzend dagegen ist die Abhandlung über die türkische Finanz-
verwaltung. Sie bietet auf gedrängtem Raum die vollständige Zahlen-



*) Stambul und das moderne Tiirkenthum von einem Osmnnen. Neue
Folge. Duncker u. Humblot in Leipzig, 1878.
Ämizs'oder IV. 1877. 65
Türkische Politik und Staatswirtljschast.
ii.

Wohl das am wenigsten probehaltige Kapitel des interessanten Buches,
dem wir unsere vorigen Schilderungen entnahmen*), ist dasjenige über die
»auswärtigen Verhältnisse und die (europäische) Diplomatie."
Diese Abhandlung ist immer noch wesentlich beherrscht von der jahrhundertelang
durch nichts gestörten Vorstellung der Türken, daß jeder Vertreter einer aus¬
wärtigen Macht dem Beherrscher aller Gläubigen nicht anders nahen dürfe,
wie jeder andere Sklave — alle türkischen Unterthanen waren Slaven der
Großherren. Der Verfasser hält die grenzenlose Verachtung, welche die
Minister des türkischen Auswärtigen Amts so oft sie nur irgend können,
der europäische» Diplomatie erweisen und den gottgefälligen Treubruch, den sie
bei jedem Stantsvertrag mit anderen Mächten fröhlich im Herzen tragen, für
die starken Seiten der ottomanischen Diplomatie. Wie wenig mit Recht,
zeigt die jetzt über die Türkei hereingebrochene Katastrophe, weist der Verfasser
selbst in seiner sehr lesenswerthen Abhandlung über die türkische Finanzver¬
waltung schlagend uach. Solche Urtheile vollends wie das eine, (S. 11<>)
daß „die europäische Diplomatie sich 25 Jahre lang von der russischen habe
an der Nase herumführen lassen, die türkische aber sich der europäischen weit
überlegen gezeigt habe" daß die ganze Diplomatie „von der orientalischen
Frage nichts verstehe" (S. 120), zeigen eine Einseitigkeit, die sonst diesem Buche
fremd ist. Grobe Mißgriffe der europäischen Diplomatie, wie der Verfasser
sie zahlreich aufzählt, ebenso unsinniges diplomatisches Wüthen der Pforte gegen
den natürlichen Bundesgenossen (England), sogar landesverrätherisches Einver¬
ständnis) gewisser türkischer Minister mit Rußland, Erscheinungen, die der
Verfasser an den interessantesten Einzelheiten belegt, sind recht wohl möglich,
ohne daß der Türkei die erste Violine im diplomatischen Konzert zugestanden
zu werden braucht. Namentlich ist die geringschätzige Meinung des Verfassers
vom Dreikaiserbüudniß und den diplomatischen Künsten, die dasselbe zu
Wege brachten (S. 134 ff. 139), nicht die reifste, die der Versasser zu Tage
fördert.

Wahrhaft glänzend dagegen ist die Abhandlung über die türkische Finanz-
verwaltung. Sie bietet auf gedrängtem Raum die vollständige Zahlen-



*) Stambul und das moderne Tiirkenthum von einem Osmnnen. Neue
Folge. Duncker u. Humblot in Leipzig, 1878.
Ämizs'oder IV. 1877. 65
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[0517] Türkische Politik und Staatswirtljschast. ii. Wohl das am wenigsten probehaltige Kapitel des interessanten Buches, dem wir unsere vorigen Schilderungen entnahmen*), ist dasjenige über die »auswärtigen Verhältnisse und die (europäische) Diplomatie." Diese Abhandlung ist immer noch wesentlich beherrscht von der jahrhundertelang durch nichts gestörten Vorstellung der Türken, daß jeder Vertreter einer aus¬ wärtigen Macht dem Beherrscher aller Gläubigen nicht anders nahen dürfe, wie jeder andere Sklave — alle türkischen Unterthanen waren Slaven der Großherren. Der Verfasser hält die grenzenlose Verachtung, welche die Minister des türkischen Auswärtigen Amts so oft sie nur irgend können, der europäische» Diplomatie erweisen und den gottgefälligen Treubruch, den sie bei jedem Stantsvertrag mit anderen Mächten fröhlich im Herzen tragen, für die starken Seiten der ottomanischen Diplomatie. Wie wenig mit Recht, zeigt die jetzt über die Türkei hereingebrochene Katastrophe, weist der Verfasser selbst in seiner sehr lesenswerthen Abhandlung über die türkische Finanzver¬ waltung schlagend uach. Solche Urtheile vollends wie das eine, (S. 11<>) daß „die europäische Diplomatie sich 25 Jahre lang von der russischen habe an der Nase herumführen lassen, die türkische aber sich der europäischen weit überlegen gezeigt habe" daß die ganze Diplomatie „von der orientalischen Frage nichts verstehe" (S. 120), zeigen eine Einseitigkeit, die sonst diesem Buche fremd ist. Grobe Mißgriffe der europäischen Diplomatie, wie der Verfasser sie zahlreich aufzählt, ebenso unsinniges diplomatisches Wüthen der Pforte gegen den natürlichen Bundesgenossen (England), sogar landesverrätherisches Einver¬ ständnis) gewisser türkischer Minister mit Rußland, Erscheinungen, die der Verfasser an den interessantesten Einzelheiten belegt, sind recht wohl möglich, ohne daß der Türkei die erste Violine im diplomatischen Konzert zugestanden zu werden braucht. Namentlich ist die geringschätzige Meinung des Verfassers vom Dreikaiserbüudniß und den diplomatischen Künsten, die dasselbe zu Wege brachten (S. 134 ff. 139), nicht die reifste, die der Versasser zu Tage fördert. Wahrhaft glänzend dagegen ist die Abhandlung über die türkische Finanz- verwaltung. Sie bietet auf gedrängtem Raum die vollständige Zahlen- *) Stambul und das moderne Tiirkenthum von einem Osmnnen. Neue Folge. Duncker u. Humblot in Leipzig, 1878. Ämizs'oder IV. 1877. 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/517>, abgerufen am 25.08.2024.