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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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kömmlichkeiten beseitigt wünschen, so vernehmen wir hier vor Allem die Klage
über den erheblich gestiegenen Armenaufwand. Daß der Armenaufwand gegen
früher gewachsen ist, wird nicht bestritten, indessen ist die Steigerung nicht so
erheblich, wie behauptet wird, und keinesfalls ist eine uuverhültnißmäßige Stei¬
gerung konstatirt. Ein Wunder wäre es, wenn bei der progressiv fortgeschrit¬
tenen Entwerthung des Geldes, wie wir sie erlebt haben, wo auch das Budget
der kleinsten Haushaltung gegen früher sehr gewichtig veränderte Zahlen aus¬
weist, einzig die Position für den Armenaufwand dieselbe geblieben wäre.
Sodann darf nicht unbeachtet bleiben, daß, wenn der Armenaufwand, wie wir
einräumen, gestiegen ist, doch wohl auch die zur Deckung des Aufwands bei¬
tragspflichtigen Kapitalien erhöhte sind- Die Gründe der Steigerung anlan¬
gend, so ist in erster Linie nicht zu verkennen, daß jeder Uebergang ans alten
Zuständen in neue, mannichfache Gefahren in sich birgt, und wenn in unserem
Falle bei dem Uebergang aus dem Zunftzwang in die Gewerbefreiheit, aus
der bürgerliche:: Seßhaftigkeit in die Freizügigkeit, aus den alten Ehebeschrän¬
kungen in die Periode der Hinwegräumung aller Hindernisse für Gründung
des eigenen Herdes, diese Gefahren in der Form leichtsinniger Geschäftsunter¬
nehmungen, verfrühter Gründung des Haushalts und dergl. zu Tage traten,
und dann unangenehme Folgen für die Armenverwaltung sich ergaben,
so kann man dies immerhin beklagen, der Einsichtige aber wird es nicht anders
erwartet haben, und ebenso sagt er sich, daß das in der Uebergangsperiode
bezahlte Lehrgeld ein für allemal bezahlt ist. Daß nun aber selbst einsichts¬
volle, tiefer blickende, denkende Männer, die seiner Zeit bewußt für jene liberale"
Forderungen eingetreten sind, jetzt, wo in der Uebergangszeit einige schlimme
Folgen sich zeigen, in einer Weise, die auch deu Geldbeutel in Mitleidenschaft
zieht -- daß sogar solche Männer verblüfft stehen, und halb schüchtern, halb
wehmüthig nach Mittelchen ausschauen, die sie ans dem reaktionären Lager zu
Hilfe rufen möchten, das offenbart eine Mattherzigkeit der Gesinnung, einen
Mangel an Energie im Durchführen des für richtig erkannten Prinzips, die
uns eher jedes andere Gefühl einflößen, als das der Achtung und der Be¬
wunderung. Was insbesondere die letzten Jahre betrifft, so leiden die für das
gesteigerte Armenbudget in Auspruch genommenen Steuerzahler eben auch mit
unter den Folgen der Ueberproduktion, des geschäftlichen Schwindels, von dem
Deutschland nach dem französischen Krieg ergriffen war. Uebrigens darf auch
uicht unbeachtet bleiben, daß der Armenaufwcmd beträchtlich weniger gewachsen
wäre, wenn die einzelnen Organe und Behörden der Armenpflege bei Aus¬
übung derselben sorgsamer verfahren würden, als sie vielfach thun.

Unserer derzeitigen Armengesetzgebung wohnen zwei Grundgedanken als
die leitenden inne. Der eine ist der, daß die Unterstützung des Hilfsbedürftigen


kömmlichkeiten beseitigt wünschen, so vernehmen wir hier vor Allem die Klage
über den erheblich gestiegenen Armenaufwand. Daß der Armenaufwand gegen
früher gewachsen ist, wird nicht bestritten, indessen ist die Steigerung nicht so
erheblich, wie behauptet wird, und keinesfalls ist eine uuverhültnißmäßige Stei¬
gerung konstatirt. Ein Wunder wäre es, wenn bei der progressiv fortgeschrit¬
tenen Entwerthung des Geldes, wie wir sie erlebt haben, wo auch das Budget
der kleinsten Haushaltung gegen früher sehr gewichtig veränderte Zahlen aus¬
weist, einzig die Position für den Armenaufwand dieselbe geblieben wäre.
Sodann darf nicht unbeachtet bleiben, daß, wenn der Armenaufwand, wie wir
einräumen, gestiegen ist, doch wohl auch die zur Deckung des Aufwands bei¬
tragspflichtigen Kapitalien erhöhte sind- Die Gründe der Steigerung anlan¬
gend, so ist in erster Linie nicht zu verkennen, daß jeder Uebergang ans alten
Zuständen in neue, mannichfache Gefahren in sich birgt, und wenn in unserem
Falle bei dem Uebergang aus dem Zunftzwang in die Gewerbefreiheit, aus
der bürgerliche:: Seßhaftigkeit in die Freizügigkeit, aus den alten Ehebeschrän¬
kungen in die Periode der Hinwegräumung aller Hindernisse für Gründung
des eigenen Herdes, diese Gefahren in der Form leichtsinniger Geschäftsunter¬
nehmungen, verfrühter Gründung des Haushalts und dergl. zu Tage traten,
und dann unangenehme Folgen für die Armenverwaltung sich ergaben,
so kann man dies immerhin beklagen, der Einsichtige aber wird es nicht anders
erwartet haben, und ebenso sagt er sich, daß das in der Uebergangsperiode
bezahlte Lehrgeld ein für allemal bezahlt ist. Daß nun aber selbst einsichts¬
volle, tiefer blickende, denkende Männer, die seiner Zeit bewußt für jene liberale»
Forderungen eingetreten sind, jetzt, wo in der Uebergangszeit einige schlimme
Folgen sich zeigen, in einer Weise, die auch deu Geldbeutel in Mitleidenschaft
zieht — daß sogar solche Männer verblüfft stehen, und halb schüchtern, halb
wehmüthig nach Mittelchen ausschauen, die sie ans dem reaktionären Lager zu
Hilfe rufen möchten, das offenbart eine Mattherzigkeit der Gesinnung, einen
Mangel an Energie im Durchführen des für richtig erkannten Prinzips, die
uns eher jedes andere Gefühl einflößen, als das der Achtung und der Be¬
wunderung. Was insbesondere die letzten Jahre betrifft, so leiden die für das
gesteigerte Armenbudget in Auspruch genommenen Steuerzahler eben auch mit
unter den Folgen der Ueberproduktion, des geschäftlichen Schwindels, von dem
Deutschland nach dem französischen Krieg ergriffen war. Uebrigens darf auch
uicht unbeachtet bleiben, daß der Armenaufwcmd beträchtlich weniger gewachsen
wäre, wenn die einzelnen Organe und Behörden der Armenpflege bei Aus¬
übung derselben sorgsamer verfahren würden, als sie vielfach thun.

Unserer derzeitigen Armengesetzgebung wohnen zwei Grundgedanken als
die leitenden inne. Der eine ist der, daß die Unterstützung des Hilfsbedürftigen


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[0049] kömmlichkeiten beseitigt wünschen, so vernehmen wir hier vor Allem die Klage über den erheblich gestiegenen Armenaufwand. Daß der Armenaufwand gegen früher gewachsen ist, wird nicht bestritten, indessen ist die Steigerung nicht so erheblich, wie behauptet wird, und keinesfalls ist eine uuverhültnißmäßige Stei¬ gerung konstatirt. Ein Wunder wäre es, wenn bei der progressiv fortgeschrit¬ tenen Entwerthung des Geldes, wie wir sie erlebt haben, wo auch das Budget der kleinsten Haushaltung gegen früher sehr gewichtig veränderte Zahlen aus¬ weist, einzig die Position für den Armenaufwand dieselbe geblieben wäre. Sodann darf nicht unbeachtet bleiben, daß, wenn der Armenaufwand, wie wir einräumen, gestiegen ist, doch wohl auch die zur Deckung des Aufwands bei¬ tragspflichtigen Kapitalien erhöhte sind- Die Gründe der Steigerung anlan¬ gend, so ist in erster Linie nicht zu verkennen, daß jeder Uebergang ans alten Zuständen in neue, mannichfache Gefahren in sich birgt, und wenn in unserem Falle bei dem Uebergang aus dem Zunftzwang in die Gewerbefreiheit, aus der bürgerliche:: Seßhaftigkeit in die Freizügigkeit, aus den alten Ehebeschrän¬ kungen in die Periode der Hinwegräumung aller Hindernisse für Gründung des eigenen Herdes, diese Gefahren in der Form leichtsinniger Geschäftsunter¬ nehmungen, verfrühter Gründung des Haushalts und dergl. zu Tage traten, und dann unangenehme Folgen für die Armenverwaltung sich ergaben, so kann man dies immerhin beklagen, der Einsichtige aber wird es nicht anders erwartet haben, und ebenso sagt er sich, daß das in der Uebergangsperiode bezahlte Lehrgeld ein für allemal bezahlt ist. Daß nun aber selbst einsichts¬ volle, tiefer blickende, denkende Männer, die seiner Zeit bewußt für jene liberale» Forderungen eingetreten sind, jetzt, wo in der Uebergangszeit einige schlimme Folgen sich zeigen, in einer Weise, die auch deu Geldbeutel in Mitleidenschaft zieht — daß sogar solche Männer verblüfft stehen, und halb schüchtern, halb wehmüthig nach Mittelchen ausschauen, die sie ans dem reaktionären Lager zu Hilfe rufen möchten, das offenbart eine Mattherzigkeit der Gesinnung, einen Mangel an Energie im Durchführen des für richtig erkannten Prinzips, die uns eher jedes andere Gefühl einflößen, als das der Achtung und der Be¬ wunderung. Was insbesondere die letzten Jahre betrifft, so leiden die für das gesteigerte Armenbudget in Auspruch genommenen Steuerzahler eben auch mit unter den Folgen der Ueberproduktion, des geschäftlichen Schwindels, von dem Deutschland nach dem französischen Krieg ergriffen war. Uebrigens darf auch uicht unbeachtet bleiben, daß der Armenaufwcmd beträchtlich weniger gewachsen wäre, wenn die einzelnen Organe und Behörden der Armenpflege bei Aus¬ übung derselben sorgsamer verfahren würden, als sie vielfach thun. Unserer derzeitigen Armengesetzgebung wohnen zwei Grundgedanken als die leitenden inne. Der eine ist der, daß die Unterstützung des Hilfsbedürftigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/49>, abgerufen am 22.07.2024.