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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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der schreckhaften Verödung des Landes. Alle möglichen Versuche, das Un¬
heil der Zehntenwirthschaft zu mildern und ganz abzuschaffen dnrch Ersatz
eines vernünftigen Steuersystems sind vorläufig daran gescheitert, daß der
Zehnten im Koran vorgeschrieben ist und es daher Gottlosigkeit wäre, daran
zu rütteln. Auch dieses freimüthige Urtheil weist auf Midhat Pascha als
Verfasser des vorliegenden Buches, denn -- so heißt es später von ihm -- "er
galt bei den Alttürken als Ungläubiger, weil er sich in seinen Reformen über
dogmatische Bedenken jeder Art hinwegsetzte."

Natürlich ist der Zehntenpächter nicht der einzige offizielle Blutsauger der
Provinzen. Der Defterdar verfährt in ähnlicher Weise mit denjenigen Steuern
die nicht verpachtet werden. Namentlich ist ihm die völlige Entwerthung des
türkischen Papiergeldes im Inlande, welches jetzt 80 Prozent gegen Gold
verliert, zu danken, da die Defterdare, die angewiesen waren, Baargeld gegen
den Neunwerth des Papiergeldes zu geben, es vorzogen, alle Baarbestände für
eigene Rechnung in Konstantinopel beim Bankier zu agiotiren und ihrerseits
nur Baargeld zu fordern, nnr Papiergeld auszugeben. Ganz in derselben
Weise wissen die dem Richterstande angehörigen Individuen, weiß jedes Mit¬
glied eiues Provinzialrathes seine Sonderinteressen zu verfolgen und natürlich
nicht am letzten der Vali, der General-Gouverneur.

Der Vali ist vielmehr durch seine ganze Stellung nothwendig auf Er¬
pressungen angewiesen. Er gehört ja zu der Privilegien Kaste der Stambnler
Effendi. Um diesen Posten zu erklimmen, hat er vielleicht jahrelang intriguiren
müssen; er war vielleicht jahrelang ohne Amt, mußte Schulden über Schulden
machen, um mit seiner ganzen Frauenzimmer- Diener- und Angehörigenwirth¬
schaft zu leben und um die zur Erlangung seines Amtes nothwendigen Trink¬
gelder und Geschenke aufzubringen. Hat er endlich sein Amt errungen, so
kommen die üblichen Gebühren seines Anstellungsdekretes, die Geschenke für die
Ueberbringer desselben, die Erpressungen einer zahllosen Schaar gratnlirender
Bettler, von denen ein jeder mindestens eine Lire (zwanzig Mark) ertrotzt,
meist aber mehr, endlich die Reisespesen für die Uebersiedelung. Da der Vali
nun nicht weiß, wie lange er im Amte bleibt, so muß er sofort daran denken,
wie er die Zeit seiner Amtsdauer aufs Beste ausnützen kann, um die erforderliche
Summe zur Deckung feiner Schulden, zur Bestreitung seines Aufwandes, zur
Bekämpfung der in der Provinz und in der Hauptstadt gegen ihn geschmiedeten
Intriguen und zur Anschaffung eines Reservefonds für die Zukunft aufzubringen.
Die Praxis von Jahrhunderten steht ihm dabei zur Seite; eine Hauptregel ist,
keine Angelegenheit irgeud eiuer Art zu erledigen, ohne daß alle dabei Vetheiligtett
ihn zufrieden gestellt haben. Jedermann weiß auch, daß eine etwaige Weigerung
der Betheiligten absolut unnütz ist. Man kann sich natürlich bei der Regierung


der schreckhaften Verödung des Landes. Alle möglichen Versuche, das Un¬
heil der Zehntenwirthschaft zu mildern und ganz abzuschaffen dnrch Ersatz
eines vernünftigen Steuersystems sind vorläufig daran gescheitert, daß der
Zehnten im Koran vorgeschrieben ist und es daher Gottlosigkeit wäre, daran
zu rütteln. Auch dieses freimüthige Urtheil weist auf Midhat Pascha als
Verfasser des vorliegenden Buches, denn — so heißt es später von ihm — „er
galt bei den Alttürken als Ungläubiger, weil er sich in seinen Reformen über
dogmatische Bedenken jeder Art hinwegsetzte."

Natürlich ist der Zehntenpächter nicht der einzige offizielle Blutsauger der
Provinzen. Der Defterdar verfährt in ähnlicher Weise mit denjenigen Steuern
die nicht verpachtet werden. Namentlich ist ihm die völlige Entwerthung des
türkischen Papiergeldes im Inlande, welches jetzt 80 Prozent gegen Gold
verliert, zu danken, da die Defterdare, die angewiesen waren, Baargeld gegen
den Neunwerth des Papiergeldes zu geben, es vorzogen, alle Baarbestände für
eigene Rechnung in Konstantinopel beim Bankier zu agiotiren und ihrerseits
nur Baargeld zu fordern, nnr Papiergeld auszugeben. Ganz in derselben
Weise wissen die dem Richterstande angehörigen Individuen, weiß jedes Mit¬
glied eiues Provinzialrathes seine Sonderinteressen zu verfolgen und natürlich
nicht am letzten der Vali, der General-Gouverneur.

Der Vali ist vielmehr durch seine ganze Stellung nothwendig auf Er¬
pressungen angewiesen. Er gehört ja zu der Privilegien Kaste der Stambnler
Effendi. Um diesen Posten zu erklimmen, hat er vielleicht jahrelang intriguiren
müssen; er war vielleicht jahrelang ohne Amt, mußte Schulden über Schulden
machen, um mit seiner ganzen Frauenzimmer- Diener- und Angehörigenwirth¬
schaft zu leben und um die zur Erlangung seines Amtes nothwendigen Trink¬
gelder und Geschenke aufzubringen. Hat er endlich sein Amt errungen, so
kommen die üblichen Gebühren seines Anstellungsdekretes, die Geschenke für die
Ueberbringer desselben, die Erpressungen einer zahllosen Schaar gratnlirender
Bettler, von denen ein jeder mindestens eine Lire (zwanzig Mark) ertrotzt,
meist aber mehr, endlich die Reisespesen für die Uebersiedelung. Da der Vali
nun nicht weiß, wie lange er im Amte bleibt, so muß er sofort daran denken,
wie er die Zeit seiner Amtsdauer aufs Beste ausnützen kann, um die erforderliche
Summe zur Deckung feiner Schulden, zur Bestreitung seines Aufwandes, zur
Bekämpfung der in der Provinz und in der Hauptstadt gegen ihn geschmiedeten
Intriguen und zur Anschaffung eines Reservefonds für die Zukunft aufzubringen.
Die Praxis von Jahrhunderten steht ihm dabei zur Seite; eine Hauptregel ist,
keine Angelegenheit irgeud eiuer Art zu erledigen, ohne daß alle dabei Vetheiligtett
ihn zufrieden gestellt haben. Jedermann weiß auch, daß eine etwaige Weigerung
der Betheiligten absolut unnütz ist. Man kann sich natürlich bei der Regierung


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[0474] der schreckhaften Verödung des Landes. Alle möglichen Versuche, das Un¬ heil der Zehntenwirthschaft zu mildern und ganz abzuschaffen dnrch Ersatz eines vernünftigen Steuersystems sind vorläufig daran gescheitert, daß der Zehnten im Koran vorgeschrieben ist und es daher Gottlosigkeit wäre, daran zu rütteln. Auch dieses freimüthige Urtheil weist auf Midhat Pascha als Verfasser des vorliegenden Buches, denn — so heißt es später von ihm — „er galt bei den Alttürken als Ungläubiger, weil er sich in seinen Reformen über dogmatische Bedenken jeder Art hinwegsetzte." Natürlich ist der Zehntenpächter nicht der einzige offizielle Blutsauger der Provinzen. Der Defterdar verfährt in ähnlicher Weise mit denjenigen Steuern die nicht verpachtet werden. Namentlich ist ihm die völlige Entwerthung des türkischen Papiergeldes im Inlande, welches jetzt 80 Prozent gegen Gold verliert, zu danken, da die Defterdare, die angewiesen waren, Baargeld gegen den Neunwerth des Papiergeldes zu geben, es vorzogen, alle Baarbestände für eigene Rechnung in Konstantinopel beim Bankier zu agiotiren und ihrerseits nur Baargeld zu fordern, nnr Papiergeld auszugeben. Ganz in derselben Weise wissen die dem Richterstande angehörigen Individuen, weiß jedes Mit¬ glied eiues Provinzialrathes seine Sonderinteressen zu verfolgen und natürlich nicht am letzten der Vali, der General-Gouverneur. Der Vali ist vielmehr durch seine ganze Stellung nothwendig auf Er¬ pressungen angewiesen. Er gehört ja zu der Privilegien Kaste der Stambnler Effendi. Um diesen Posten zu erklimmen, hat er vielleicht jahrelang intriguiren müssen; er war vielleicht jahrelang ohne Amt, mußte Schulden über Schulden machen, um mit seiner ganzen Frauenzimmer- Diener- und Angehörigenwirth¬ schaft zu leben und um die zur Erlangung seines Amtes nothwendigen Trink¬ gelder und Geschenke aufzubringen. Hat er endlich sein Amt errungen, so kommen die üblichen Gebühren seines Anstellungsdekretes, die Geschenke für die Ueberbringer desselben, die Erpressungen einer zahllosen Schaar gratnlirender Bettler, von denen ein jeder mindestens eine Lire (zwanzig Mark) ertrotzt, meist aber mehr, endlich die Reisespesen für die Uebersiedelung. Da der Vali nun nicht weiß, wie lange er im Amte bleibt, so muß er sofort daran denken, wie er die Zeit seiner Amtsdauer aufs Beste ausnützen kann, um die erforderliche Summe zur Deckung feiner Schulden, zur Bestreitung seines Aufwandes, zur Bekämpfung der in der Provinz und in der Hauptstadt gegen ihn geschmiedeten Intriguen und zur Anschaffung eines Reservefonds für die Zukunft aufzubringen. Die Praxis von Jahrhunderten steht ihm dabei zur Seite; eine Hauptregel ist, keine Angelegenheit irgeud eiuer Art zu erledigen, ohne daß alle dabei Vetheiligtett ihn zufrieden gestellt haben. Jedermann weiß auch, daß eine etwaige Weigerung der Betheiligten absolut unnütz ist. Man kann sich natürlich bei der Regierung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/474>, abgerufen am 22.07.2024.