Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

tyrannischeren Sprachenzwanges. Denn die Noth und das Interesse kann wohl
ein Individuum veranlassen, einen Glauben zu heucheln, den es acht hat,
aber nie und nimmer Kenntniß einer Sprache zu heucheln, die es acht versteht."
Wir überlassen unsern Lesern das Nachdenken darüber, ob mit diesem Rezept
wohl die orientalische Frage zu lösen ist und wer wohl in der ganzen Welt
Prokura hat, als "der Orient" zu firmiren? Wir meinen sogar unmaßgeblich
und für unsere Person, daß auch die Uebersetzung dieses Räthsels in's Familiäre
in letzten Satze des Buches uns nicht wesentlich fördert, wo der Verfasser
sagt: "Kann Enropa, die Tochter des Orients, ihrer Mutter diese Guter
verschaffen, so werden Europa und der Orient sich wieder lieben, wie Tochter und
Mutter; kann sich aber die Tochter nicht dazu entschließen, nun so bleibe sie
lieber ganz für sich und lasse die Mutter ihre eigenen Wege gehen." So
wenig sich ein phantasieloser Westeuropäer hierbei mag denken können -
namentlich wenn die Wege von Mutter und Tochter so unangenehm und
verworren durcheinanderlaufen, wie thatsächlich der Fall ist -- so bieten uns
doch die ersten der angeführten Sätze ein ganz bestimmtes Programm des
Verfassers gegenüber der orientalischen Frage, welches zugleich in der Haupt,
sache die Quintessenz dessen enthält, was im vorliegenden Werke begründet und
geschildert ist. Wenn man unterrichtet ist über die Laufbahn und Staatsmaxime
Midhat Pascha's wird man zugleich erkennen, daß diese Sätze sich fast voll¬
ständig decken mit dem Programm, das er als türkischer Beamter und Minister
Zur Richtschnur nahm. Wir werden Gelegenheit haben, das im Einzelnen in
der vorliegenden Schrift bestätigt zu finden. Folgen wir daher dem Verfasser
in seinen einzelnen Untersuchungen.

Schon der erste Hauptabschnitt des Werkes, der "die Verwaltung n.
den Provinzen" behandelt, beweist uns. daß der Verfasser ans Quellen
^schöpft hat. die kaum einem Andern zugänglich sind, geschweige denn so ohne
jede Hülle und Schranke offen lagen, wie ihm. Die Missethaten jedes Statthalters
von den Bergen der Herzegowina bis nach Bagdad und Jenen zählt der
Verfasser ans. Ueber das Ergebniß jeder der Untersuchungen, die bei beson¬
ders scandalösen Erpressungen oder Mißverwaltungen hoher türkischer Beamter
eingeleitet wurde", weiß er zu erzählen - mir über jene Prozesse, die nach
dem Sturze Midhat Pascha's ihr Ende gefunden haben, ist er nicht bis zum
Schlüsse unterrichtet Der Anfang des Buches ist sechs Wochen nach der
Kriegserklärung Rußlands an die Türkei geschrieben (S. 14). und da manche
der später folgenden Essays offenbar schon länger geschrieben sind, namentlich
^e biographischen Partieen des Buches -- man wird mit einiger Aufmerksam¬
keit fast jeder Arbeit, wie jeder Predigt, ungefähr den Jahrgang ansehen können,^ so glauben wir nicht zu irren, wenn wir annehmen, das ganze Buch ist


tyrannischeren Sprachenzwanges. Denn die Noth und das Interesse kann wohl
ein Individuum veranlassen, einen Glauben zu heucheln, den es acht hat,
aber nie und nimmer Kenntniß einer Sprache zu heucheln, die es acht versteht."
Wir überlassen unsern Lesern das Nachdenken darüber, ob mit diesem Rezept
wohl die orientalische Frage zu lösen ist und wer wohl in der ganzen Welt
Prokura hat, als „der Orient" zu firmiren? Wir meinen sogar unmaßgeblich
und für unsere Person, daß auch die Uebersetzung dieses Räthsels in's Familiäre
in letzten Satze des Buches uns nicht wesentlich fördert, wo der Verfasser
sagt: „Kann Enropa, die Tochter des Orients, ihrer Mutter diese Guter
verschaffen, so werden Europa und der Orient sich wieder lieben, wie Tochter und
Mutter; kann sich aber die Tochter nicht dazu entschließen, nun so bleibe sie
lieber ganz für sich und lasse die Mutter ihre eigenen Wege gehen." So
wenig sich ein phantasieloser Westeuropäer hierbei mag denken können -
namentlich wenn die Wege von Mutter und Tochter so unangenehm und
verworren durcheinanderlaufen, wie thatsächlich der Fall ist — so bieten uns
doch die ersten der angeführten Sätze ein ganz bestimmtes Programm des
Verfassers gegenüber der orientalischen Frage, welches zugleich in der Haupt,
sache die Quintessenz dessen enthält, was im vorliegenden Werke begründet und
geschildert ist. Wenn man unterrichtet ist über die Laufbahn und Staatsmaxime
Midhat Pascha's wird man zugleich erkennen, daß diese Sätze sich fast voll¬
ständig decken mit dem Programm, das er als türkischer Beamter und Minister
Zur Richtschnur nahm. Wir werden Gelegenheit haben, das im Einzelnen in
der vorliegenden Schrift bestätigt zu finden. Folgen wir daher dem Verfasser
in seinen einzelnen Untersuchungen.

Schon der erste Hauptabschnitt des Werkes, der „die Verwaltung n.
den Provinzen" behandelt, beweist uns. daß der Verfasser ans Quellen
^schöpft hat. die kaum einem Andern zugänglich sind, geschweige denn so ohne
jede Hülle und Schranke offen lagen, wie ihm. Die Missethaten jedes Statthalters
von den Bergen der Herzegowina bis nach Bagdad und Jenen zählt der
Verfasser ans. Ueber das Ergebniß jeder der Untersuchungen, die bei beson¬
ders scandalösen Erpressungen oder Mißverwaltungen hoher türkischer Beamter
eingeleitet wurde», weiß er zu erzählen - mir über jene Prozesse, die nach
dem Sturze Midhat Pascha's ihr Ende gefunden haben, ist er nicht bis zum
Schlüsse unterrichtet Der Anfang des Buches ist sechs Wochen nach der
Kriegserklärung Rußlands an die Türkei geschrieben (S. 14). und da manche
der später folgenden Essays offenbar schon länger geschrieben sind, namentlich
^e biographischen Partieen des Buches — man wird mit einiger Aufmerksam¬
keit fast jeder Arbeit, wie jeder Predigt, ungefähr den Jahrgang ansehen können,^ so glauben wir nicht zu irren, wenn wir annehmen, das ganze Buch ist


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0471" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139230"/>
          <p xml:id="ID_1356" prev="#ID_1355"> tyrannischeren Sprachenzwanges. Denn die Noth und das Interesse kann wohl<lb/>
ein Individuum veranlassen, einen Glauben zu heucheln, den es acht hat,<lb/>
aber nie und nimmer Kenntniß einer Sprache zu heucheln, die es acht versteht."<lb/>
Wir überlassen unsern Lesern das Nachdenken darüber, ob mit diesem Rezept<lb/>
wohl die orientalische Frage zu lösen ist und wer wohl in der ganzen Welt<lb/>
Prokura hat, als &#x201E;der Orient" zu firmiren? Wir meinen sogar unmaßgeblich<lb/>
und für unsere Person, daß auch die Uebersetzung dieses Räthsels in's Familiäre<lb/>
in letzten Satze des Buches uns nicht wesentlich fördert, wo der Verfasser<lb/>
sagt:  &#x201E;Kann Enropa, die Tochter des Orients, ihrer Mutter diese Guter<lb/>
verschaffen, so werden Europa und der Orient sich wieder lieben, wie Tochter und<lb/>
Mutter; kann sich aber die Tochter nicht dazu entschließen, nun so bleibe sie<lb/>
lieber ganz für sich und lasse die Mutter ihre eigenen Wege gehen." So<lb/>
wenig sich ein phantasieloser Westeuropäer hierbei mag denken können -<lb/>
namentlich wenn die Wege von Mutter und Tochter so unangenehm und<lb/>
verworren durcheinanderlaufen, wie thatsächlich der Fall ist &#x2014; so bieten uns<lb/>
doch die ersten der angeführten Sätze ein ganz bestimmtes Programm des<lb/>
Verfassers gegenüber der orientalischen Frage, welches zugleich in der Haupt,<lb/>
sache die Quintessenz dessen enthält, was im vorliegenden Werke begründet und<lb/>
geschildert ist. Wenn man unterrichtet ist über die Laufbahn und Staatsmaxime<lb/>
Midhat Pascha's wird man zugleich erkennen, daß diese Sätze sich fast voll¬<lb/>
ständig decken mit dem Programm, das er als türkischer Beamter und Minister<lb/>
Zur Richtschnur nahm. Wir werden Gelegenheit haben, das im Einzelnen in<lb/>
der vorliegenden Schrift bestätigt zu finden. Folgen wir daher dem Verfasser<lb/>
in seinen einzelnen Untersuchungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1357" next="#ID_1358"> Schon der erste Hauptabschnitt des Werkes, der &#x201E;die Verwaltung n.<lb/>
den Provinzen" behandelt, beweist uns. daß der Verfasser ans Quellen<lb/>
^schöpft hat. die kaum einem Andern zugänglich sind, geschweige denn so ohne<lb/>
jede Hülle und Schranke offen lagen, wie ihm. Die Missethaten jedes Statthalters<lb/>
von den Bergen der Herzegowina bis nach Bagdad und Jenen zählt der<lb/>
Verfasser ans. Ueber das Ergebniß jeder der Untersuchungen, die bei beson¬<lb/>
ders scandalösen Erpressungen oder Mißverwaltungen hoher türkischer Beamter<lb/>
eingeleitet wurde», weiß er zu erzählen - mir über jene Prozesse, die nach<lb/>
dem Sturze Midhat Pascha's ihr Ende gefunden haben, ist er nicht bis zum<lb/>
Schlüsse unterrichtet Der Anfang des Buches ist sechs Wochen nach der<lb/>
Kriegserklärung Rußlands an die Türkei geschrieben (S. 14). und da manche<lb/>
der später folgenden Essays offenbar schon länger geschrieben sind, namentlich<lb/>
^e biographischen Partieen des Buches &#x2014; man wird mit einiger Aufmerksam¬<lb/>
keit fast jeder Arbeit, wie jeder Predigt, ungefähr den Jahrgang ansehen können,^ so glauben wir nicht zu irren, wenn wir annehmen, das ganze Buch ist</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0471] tyrannischeren Sprachenzwanges. Denn die Noth und das Interesse kann wohl ein Individuum veranlassen, einen Glauben zu heucheln, den es acht hat, aber nie und nimmer Kenntniß einer Sprache zu heucheln, die es acht versteht." Wir überlassen unsern Lesern das Nachdenken darüber, ob mit diesem Rezept wohl die orientalische Frage zu lösen ist und wer wohl in der ganzen Welt Prokura hat, als „der Orient" zu firmiren? Wir meinen sogar unmaßgeblich und für unsere Person, daß auch die Uebersetzung dieses Räthsels in's Familiäre in letzten Satze des Buches uns nicht wesentlich fördert, wo der Verfasser sagt: „Kann Enropa, die Tochter des Orients, ihrer Mutter diese Guter verschaffen, so werden Europa und der Orient sich wieder lieben, wie Tochter und Mutter; kann sich aber die Tochter nicht dazu entschließen, nun so bleibe sie lieber ganz für sich und lasse die Mutter ihre eigenen Wege gehen." So wenig sich ein phantasieloser Westeuropäer hierbei mag denken können - namentlich wenn die Wege von Mutter und Tochter so unangenehm und verworren durcheinanderlaufen, wie thatsächlich der Fall ist — so bieten uns doch die ersten der angeführten Sätze ein ganz bestimmtes Programm des Verfassers gegenüber der orientalischen Frage, welches zugleich in der Haupt, sache die Quintessenz dessen enthält, was im vorliegenden Werke begründet und geschildert ist. Wenn man unterrichtet ist über die Laufbahn und Staatsmaxime Midhat Pascha's wird man zugleich erkennen, daß diese Sätze sich fast voll¬ ständig decken mit dem Programm, das er als türkischer Beamter und Minister Zur Richtschnur nahm. Wir werden Gelegenheit haben, das im Einzelnen in der vorliegenden Schrift bestätigt zu finden. Folgen wir daher dem Verfasser in seinen einzelnen Untersuchungen. Schon der erste Hauptabschnitt des Werkes, der „die Verwaltung n. den Provinzen" behandelt, beweist uns. daß der Verfasser ans Quellen ^schöpft hat. die kaum einem Andern zugänglich sind, geschweige denn so ohne jede Hülle und Schranke offen lagen, wie ihm. Die Missethaten jedes Statthalters von den Bergen der Herzegowina bis nach Bagdad und Jenen zählt der Verfasser ans. Ueber das Ergebniß jeder der Untersuchungen, die bei beson¬ ders scandalösen Erpressungen oder Mißverwaltungen hoher türkischer Beamter eingeleitet wurde», weiß er zu erzählen - mir über jene Prozesse, die nach dem Sturze Midhat Pascha's ihr Ende gefunden haben, ist er nicht bis zum Schlüsse unterrichtet Der Anfang des Buches ist sechs Wochen nach der Kriegserklärung Rußlands an die Türkei geschrieben (S. 14). und da manche der später folgenden Essays offenbar schon länger geschrieben sind, namentlich ^e biographischen Partieen des Buches — man wird mit einiger Aufmerksam¬ keit fast jeder Arbeit, wie jeder Predigt, ungefähr den Jahrgang ansehen können,^ so glauben wir nicht zu irren, wenn wir annehmen, das ganze Buch ist

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/471
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/471>, abgerufen am 22.07.2024.