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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Auch für die Dauerbarkeit einer Schrift wie dieser über türkische Zustände
bietet die im letzten Jahre wiederholt neu aufgelegte Schrift Moltke's ein klas¬
sisches Beispiel. Wie langsam Volker leben, mag man heutzutage hauptsächlich
an diesem Reiche, am Orient überhaupt erkennen. Wir selbst haben in der
stürmischen Hast unsrer Tagesinteressen und Pflichten längst den objektiven
Maßstab dafür verloren, ob wir selbst denn wesentlich rascher leben wie die
Orientalen. Nur wenn uns gelegentlich ein grundgelehrter Maun offenbart,
daß etwa Machiavelli oder sonst ein genauer Kenner der Volksseele, die
Franzosen und Deutschen vor drei- bis vierhundert Jahren in der Hauptsache
ebenso geschildert, wie sie heute sind, glauben wir, daß wir auch uicht ganz so
rasch leben, wie wir uns einbilden. Ein großer Unterschied besteht aber zwei¬
fellos zwischen unserm öffentlichen Leben und demjenigen orientalischer Volker:
der nämlich, daß sie in unserm Sinne fast keins besitzen. Bei uns ist von
der ersten Schulbildung an dafür gesorgt, daß der junge Staatsbürger von
der Verfassung seines Vaterlandes, seinen öffentlichen Rechten und Pflichten
den geographischen, geschichtlichen, wirthschaftlichen, .sozialen Zuständen seines
Landes Kenntniß erhalte; und was die Schule in dieser Hinsicht etwa versäumt,
besorgt unser öffentliches Leben, unsre Presse, unsre Literatur mit allem Eifer.
Kaum irgend ein Gebiet des öffentlichen Lebens, kaum irgend ein öffentlicher
Charakter der europäischen Kulturvölker, die nicht auch in allen übrigen Ländern
Europa's bekannt, das Gemeingut der Gebildeten wären. Nichts von alledeM
in der Türkei. Jede Schrift fast, welche aus Anlaß des letzten Krieges über
das osmanische Reich erschienen ist, hat uns Enthüllungen geboten, die wie
eine neue Entdeckung wirkten, obwohl die vermeintlich neuentdeckten Zustände
längst bestanden. Auch das vorliegende Buch bietet solcher neuen Entdeckungen
die Fülle -- und "in zehn oder zwanzig Jahren wird man dieselben Entdeck¬
ungen vielleicht mit demselben Vergnügen von neuem machen.

Was westeuropäische Schriftsteller in ihrer Vorrede zu sagen lieben ^
anch wenn sie nicht etwa blos ausschlachtenden Renzensenten mit besonders
knapper Zeit einen Gefallen erweisen wollen, -- das verräth uns der "Osmane"
in seinem Schlußwort. Die Formel für die endliche Lösung der orientalischen
Frage lautet hier: "Der Orient verlangt vor allen Dingen die völlige Beseitigung
jener Beamten-Aristokratie, welche zwischen Souverain und Volk eine Barriere
bildet, hinterrücks Steine zwischen die Nationen wirft und in diesem Chaos
von wilden fanatischen Leidenschaften ihre Börsen füllt, und die Unterthanen
um die Früchte ihrer Arbeit betrügt. Der Orient verlangt ferner, daß alle
Privilegien und Vorrechte, die sich auf das religiöse Glaubensbekenntniß oder
auf linguistische Verhältnisse gründen, mit der Wurzel ausgerottet und beseitigt
werden, rücksichtslose Beseitigung des Glaubenszwanges und des noch viel


Auch für die Dauerbarkeit einer Schrift wie dieser über türkische Zustände
bietet die im letzten Jahre wiederholt neu aufgelegte Schrift Moltke's ein klas¬
sisches Beispiel. Wie langsam Volker leben, mag man heutzutage hauptsächlich
an diesem Reiche, am Orient überhaupt erkennen. Wir selbst haben in der
stürmischen Hast unsrer Tagesinteressen und Pflichten längst den objektiven
Maßstab dafür verloren, ob wir selbst denn wesentlich rascher leben wie die
Orientalen. Nur wenn uns gelegentlich ein grundgelehrter Maun offenbart,
daß etwa Machiavelli oder sonst ein genauer Kenner der Volksseele, die
Franzosen und Deutschen vor drei- bis vierhundert Jahren in der Hauptsache
ebenso geschildert, wie sie heute sind, glauben wir, daß wir auch uicht ganz so
rasch leben, wie wir uns einbilden. Ein großer Unterschied besteht aber zwei¬
fellos zwischen unserm öffentlichen Leben und demjenigen orientalischer Volker:
der nämlich, daß sie in unserm Sinne fast keins besitzen. Bei uns ist von
der ersten Schulbildung an dafür gesorgt, daß der junge Staatsbürger von
der Verfassung seines Vaterlandes, seinen öffentlichen Rechten und Pflichten
den geographischen, geschichtlichen, wirthschaftlichen, .sozialen Zuständen seines
Landes Kenntniß erhalte; und was die Schule in dieser Hinsicht etwa versäumt,
besorgt unser öffentliches Leben, unsre Presse, unsre Literatur mit allem Eifer.
Kaum irgend ein Gebiet des öffentlichen Lebens, kaum irgend ein öffentlicher
Charakter der europäischen Kulturvölker, die nicht auch in allen übrigen Ländern
Europa's bekannt, das Gemeingut der Gebildeten wären. Nichts von alledeM
in der Türkei. Jede Schrift fast, welche aus Anlaß des letzten Krieges über
das osmanische Reich erschienen ist, hat uns Enthüllungen geboten, die wie
eine neue Entdeckung wirkten, obwohl die vermeintlich neuentdeckten Zustände
längst bestanden. Auch das vorliegende Buch bietet solcher neuen Entdeckungen
die Fülle — und "in zehn oder zwanzig Jahren wird man dieselben Entdeck¬
ungen vielleicht mit demselben Vergnügen von neuem machen.

Was westeuropäische Schriftsteller in ihrer Vorrede zu sagen lieben ^
anch wenn sie nicht etwa blos ausschlachtenden Renzensenten mit besonders
knapper Zeit einen Gefallen erweisen wollen, — das verräth uns der „Osmane"
in seinem Schlußwort. Die Formel für die endliche Lösung der orientalischen
Frage lautet hier: „Der Orient verlangt vor allen Dingen die völlige Beseitigung
jener Beamten-Aristokratie, welche zwischen Souverain und Volk eine Barriere
bildet, hinterrücks Steine zwischen die Nationen wirft und in diesem Chaos
von wilden fanatischen Leidenschaften ihre Börsen füllt, und die Unterthanen
um die Früchte ihrer Arbeit betrügt. Der Orient verlangt ferner, daß alle
Privilegien und Vorrechte, die sich auf das religiöse Glaubensbekenntniß oder
auf linguistische Verhältnisse gründen, mit der Wurzel ausgerottet und beseitigt
werden, rücksichtslose Beseitigung des Glaubenszwanges und des noch viel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/470>, abgerufen am 22.07.2024.