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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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wohl unbekannte, jenen tributpflichtige Volksstcimme in die eroberten Gebiete,
siedelten sich hier an und wurden die Stcnnmeltern neuer Volksstämme und
neuer Geschlechter. Dieser Umstand dürfte hinreichend die Erscheinung er¬
klären, daß auf einem verhältnißmäßig kleinen Territorium, wie es Kaukasien
ist, eine so große Anzahl von Volksstümmen lebt, deren Sitten, Gewohnheiten
und Sprachen dermaßen von einander verschieden sind, daß jeder von ihnen
danach füglich als ein eigenes Volk betrachtet werden kann. Ein Stamm ver¬
steht die Sprache des anderen benachbarten nicht, und wollen sie sich mit ein¬
ander verständigen, so sind sie auf die Sprache der mittelasiatischen Diplomatie
-- die tartarische -- angewiesen. Nur die Grusier, Jmmeretier, Gurizier,
Mingrelen und Savaneten sind stammverwandt und reden eine Sprache; sie
bilden die sogenannte Kartweller Race, sind die zahlreichsten Bewohner Kauka-
siers und stehen Physisch und geistig jedenfalls höher als die anderen Volks¬
stämme dieses Landes.

Nachdem Tiflis im Jahre 1220 von den Horden Dschengis Chans er¬
obert und zerstört worden, wurde es im Jahre 1388 von den Horden Tamer-
lans abermals in einen Schutthaufen verwandelt. Im Anfange des 16. Jahr¬
hunderts kam das Land unter die Herrschaft der Türken, denen es 1735 der
persische Schah Nadir entriß. Er setzte den Grusier Teinmras aus dem Ge¬
schlechte Bagration als seinen Vasallen ein und ließ sich von ihm Tribut
zahlen. Dieses Verhältniß dauerte nicht lange, denn schon im Jahre 1783
bat Georg XIII. Katharina II., ihn als Vasallen anzunehmen, und ihr Nach¬
folger Paul I. verbot dem Nachkommen dieses Fürsten, sich die Königskrone
aufzusetzen, sandte eine Armee in das Land, besetzte Tiflis und betrachtete
Grusien als eine Provinz des Zarates. Von nun an begannen die Kämpfe
mit den anderen Volksstämmen Kaukasiers, welche sich im Gegensatze zu den
christlichen Grusiern und Armeniern zur Lehre Muhameds bekennen, und diese
Kämpfe dauerten bekanntlich bis zum Jahre 185V, bis zur Eroberung Gunibs
und der Gefangennahme Schamyls.

Das amtliche Rußland versteht uuter Kaukasien uur den Landstrich, welcher
sich nördlich vom Kaukasus, vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meere hin¬
zieht und an das Land der Dorschen Kosaken und das ehemalige Königreich
Astrachan grenzt. Die Bewohner des Landes südlich dieses Landstriches nennest
sich jedoch auch Kaukasier und ihr Land Kaukasien, und dieses geographische
Kaukasien erstreckt sich bis an die Grenze Persiens und der asiatischen Türkei,
und gerade dieser Theil des Landes lenkt die Aufmerksamkeit des heutigen
Europas auf sich, denn er ist ein Theil des großen asiatischen Kriegsschau¬
platzes. Das den Norden dieses Kaukastens von seinem Süden trennende
Gebirge ruht auf einem Sockel, der durchschnittlich zwölf Meilen breit und


wohl unbekannte, jenen tributpflichtige Volksstcimme in die eroberten Gebiete,
siedelten sich hier an und wurden die Stcnnmeltern neuer Volksstämme und
neuer Geschlechter. Dieser Umstand dürfte hinreichend die Erscheinung er¬
klären, daß auf einem verhältnißmäßig kleinen Territorium, wie es Kaukasien
ist, eine so große Anzahl von Volksstümmen lebt, deren Sitten, Gewohnheiten
und Sprachen dermaßen von einander verschieden sind, daß jeder von ihnen
danach füglich als ein eigenes Volk betrachtet werden kann. Ein Stamm ver¬
steht die Sprache des anderen benachbarten nicht, und wollen sie sich mit ein¬
ander verständigen, so sind sie auf die Sprache der mittelasiatischen Diplomatie
— die tartarische — angewiesen. Nur die Grusier, Jmmeretier, Gurizier,
Mingrelen und Savaneten sind stammverwandt und reden eine Sprache; sie
bilden die sogenannte Kartweller Race, sind die zahlreichsten Bewohner Kauka-
siers und stehen Physisch und geistig jedenfalls höher als die anderen Volks¬
stämme dieses Landes.

Nachdem Tiflis im Jahre 1220 von den Horden Dschengis Chans er¬
obert und zerstört worden, wurde es im Jahre 1388 von den Horden Tamer-
lans abermals in einen Schutthaufen verwandelt. Im Anfange des 16. Jahr¬
hunderts kam das Land unter die Herrschaft der Türken, denen es 1735 der
persische Schah Nadir entriß. Er setzte den Grusier Teinmras aus dem Ge¬
schlechte Bagration als seinen Vasallen ein und ließ sich von ihm Tribut
zahlen. Dieses Verhältniß dauerte nicht lange, denn schon im Jahre 1783
bat Georg XIII. Katharina II., ihn als Vasallen anzunehmen, und ihr Nach¬
folger Paul I. verbot dem Nachkommen dieses Fürsten, sich die Königskrone
aufzusetzen, sandte eine Armee in das Land, besetzte Tiflis und betrachtete
Grusien als eine Provinz des Zarates. Von nun an begannen die Kämpfe
mit den anderen Volksstämmen Kaukasiers, welche sich im Gegensatze zu den
christlichen Grusiern und Armeniern zur Lehre Muhameds bekennen, und diese
Kämpfe dauerten bekanntlich bis zum Jahre 185V, bis zur Eroberung Gunibs
und der Gefangennahme Schamyls.

Das amtliche Rußland versteht uuter Kaukasien uur den Landstrich, welcher
sich nördlich vom Kaukasus, vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meere hin¬
zieht und an das Land der Dorschen Kosaken und das ehemalige Königreich
Astrachan grenzt. Die Bewohner des Landes südlich dieses Landstriches nennest
sich jedoch auch Kaukasier und ihr Land Kaukasien, und dieses geographische
Kaukasien erstreckt sich bis an die Grenze Persiens und der asiatischen Türkei,
und gerade dieser Theil des Landes lenkt die Aufmerksamkeit des heutigen
Europas auf sich, denn er ist ein Theil des großen asiatischen Kriegsschau¬
platzes. Das den Norden dieses Kaukastens von seinem Süden trennende
Gebirge ruht auf einem Sockel, der durchschnittlich zwölf Meilen breit und


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[0390] wohl unbekannte, jenen tributpflichtige Volksstcimme in die eroberten Gebiete, siedelten sich hier an und wurden die Stcnnmeltern neuer Volksstämme und neuer Geschlechter. Dieser Umstand dürfte hinreichend die Erscheinung er¬ klären, daß auf einem verhältnißmäßig kleinen Territorium, wie es Kaukasien ist, eine so große Anzahl von Volksstümmen lebt, deren Sitten, Gewohnheiten und Sprachen dermaßen von einander verschieden sind, daß jeder von ihnen danach füglich als ein eigenes Volk betrachtet werden kann. Ein Stamm ver¬ steht die Sprache des anderen benachbarten nicht, und wollen sie sich mit ein¬ ander verständigen, so sind sie auf die Sprache der mittelasiatischen Diplomatie — die tartarische — angewiesen. Nur die Grusier, Jmmeretier, Gurizier, Mingrelen und Savaneten sind stammverwandt und reden eine Sprache; sie bilden die sogenannte Kartweller Race, sind die zahlreichsten Bewohner Kauka- siers und stehen Physisch und geistig jedenfalls höher als die anderen Volks¬ stämme dieses Landes. Nachdem Tiflis im Jahre 1220 von den Horden Dschengis Chans er¬ obert und zerstört worden, wurde es im Jahre 1388 von den Horden Tamer- lans abermals in einen Schutthaufen verwandelt. Im Anfange des 16. Jahr¬ hunderts kam das Land unter die Herrschaft der Türken, denen es 1735 der persische Schah Nadir entriß. Er setzte den Grusier Teinmras aus dem Ge¬ schlechte Bagration als seinen Vasallen ein und ließ sich von ihm Tribut zahlen. Dieses Verhältniß dauerte nicht lange, denn schon im Jahre 1783 bat Georg XIII. Katharina II., ihn als Vasallen anzunehmen, und ihr Nach¬ folger Paul I. verbot dem Nachkommen dieses Fürsten, sich die Königskrone aufzusetzen, sandte eine Armee in das Land, besetzte Tiflis und betrachtete Grusien als eine Provinz des Zarates. Von nun an begannen die Kämpfe mit den anderen Volksstämmen Kaukasiers, welche sich im Gegensatze zu den christlichen Grusiern und Armeniern zur Lehre Muhameds bekennen, und diese Kämpfe dauerten bekanntlich bis zum Jahre 185V, bis zur Eroberung Gunibs und der Gefangennahme Schamyls. Das amtliche Rußland versteht uuter Kaukasien uur den Landstrich, welcher sich nördlich vom Kaukasus, vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meere hin¬ zieht und an das Land der Dorschen Kosaken und das ehemalige Königreich Astrachan grenzt. Die Bewohner des Landes südlich dieses Landstriches nennest sich jedoch auch Kaukasier und ihr Land Kaukasien, und dieses geographische Kaukasien erstreckt sich bis an die Grenze Persiens und der asiatischen Türkei, und gerade dieser Theil des Landes lenkt die Aufmerksamkeit des heutigen Europas auf sich, denn er ist ein Theil des großen asiatischen Kriegsschau¬ platzes. Das den Norden dieses Kaukastens von seinem Süden trennende Gebirge ruht auf einem Sockel, der durchschnittlich zwölf Meilen breit und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/390>, abgerufen am 22.07.2024.