Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band."Geisteskrank?" "Wie ich fürchte, hoffnungslos." Wenn man die ganze Scene in einem Blick zusammenfaßt, die wir hier Nichts von alledem in den folgenden zwei Dritteln der Erzählung. Wer „Geisteskrank?" „Wie ich fürchte, hoffnungslos." Wenn man die ganze Scene in einem Blick zusammenfaßt, die wir hier Nichts von alledem in den folgenden zwei Dritteln der Erzählung. Wer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139109"/> <p xml:id="ID_1016"> „Geisteskrank?"</p><lb/> <p xml:id="ID_1017"> „Wie ich fürchte, hoffnungslos."</p><lb/> <p xml:id="ID_1018"> Wenn man die ganze Scene in einem Blick zusammenfaßt, die wir hier<lb/> nur in knappen Auszug geben konnten, so wird man freudig anerkennen, daß<lb/> es wenige ihres Gleichen gibt, wenige von so packender Komik, so origineller<lb/> Erfindung, so fester Zeichnung aller handelnden Figuren. Und doch ist das<lb/> noch nicht der größte Werth dieser köstlichen Episode. Es ist überhaupt keine<lb/> Episode, sondern sie bietet den Abschluß der Exposition der Handlung und<lb/> deutet an den ungewöhnlich ernsten Conflikt, welchen die, mit der ganzen Kraft<lb/> einer unverdorbenen Natur, der unglücklichen „Königin von Saba" sich zu¬<lb/> wendende Liebe des jungen Lynde zu besiegen haben wird. Nicht gesellschaft¬<lb/> liche Schranken oder konventionelle Vorurtheile, Unterschiede des Glaubens,<lb/> Vermögens, der Erziehung, politischer Meinungen oder Charakteranlagen,<lb/> werden ihn, so sagen wir uns, daran hindern, seine Liebe zu gewinnen. Er<lb/> wird zu kämpfen haben mit den finstern Mächten, welche den Geist des unglück¬<lb/> lichen Mädchens umnachten — „wie ich fürchte, hoffnungslos!" meint der<lb/> erfahrene Jrrenarzt. Damit ist die Erwartung des Lesers aufs Höchste ge-<lb/> . spannt. Psychologische Probleme von größter Kühnheit hofft man im weiteren<lb/> Laufe der Erzählung auftauchen und wenigstens versuchsweise gelöst zu sehen.<lb/> Als größtes stellt sich die Therapie des Wahnsinns durch die Liebe dar, in<lb/> einem Falle, den die nüchterne Wissenschaft für „hoffnungslos" erklärt. Ist<lb/> das die Absicht des Dichters? fragt man sich — Glückauf! Wie fein und poetisch<lb/> müssen die Scenen sich gestalten lassen, in denen der klare Geist, das reine Herz des<lb/> jungen Mannes durch die Erweckung der Gegenempfindung in dem unglücklichen<lb/> Mädchen allmählig immer größere geistige Klarheit in ihr schafft! Oder hat<lb/> der Dichter dem ernsten Konflikt, seiner eigenen Natur entsprechend, eine mehr<lb/> heitere Seite abgewonnen? Ist er ausgegangen von dem bekannten Erfahrungs¬<lb/> sätze der Jrrenheilkuude, daß uicht wenige anscheinend verzweifelte Fülle von<lb/> Geistesstörung dadurch geheilt werden, daß man auf den Irrwahn des Kranken<lb/> vollständig eingeht, ihn als durchaus vernünftig behandelt und ihm dann<lb/> plötzlich das Unmögliche seiner fixen Idee beweist, indem man ihn zwingt, die<lb/> letzten Konsequenzen derselben zu ziehe» oder mitanzusehen? Wird Lynde<lb/> etwa als König Snlvmvn sich etabliren, um die Königin von Saba vernünftig<lb/> zu machen?</p><lb/> <p xml:id="ID_1019" next="#ID_1020"> Nichts von alledem in den folgenden zwei Dritteln der Erzählung. Wer<lb/> seine Erwartungen nach dem brillanten Aufbau der Handlung hoch spannte,<lb/> fühlt sich schmerzlich enttäuscht und erkennt mit steigender, aber keineswegs<lb/> angenehmer Verwunderung, daß dem Dichter bei dem ersten großen Akt, den<lb/> nur oben mittheilten, der Pust ausgegangen ist und die übrigen zwei Akte</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0350]
„Geisteskrank?"
„Wie ich fürchte, hoffnungslos."
Wenn man die ganze Scene in einem Blick zusammenfaßt, die wir hier
nur in knappen Auszug geben konnten, so wird man freudig anerkennen, daß
es wenige ihres Gleichen gibt, wenige von so packender Komik, so origineller
Erfindung, so fester Zeichnung aller handelnden Figuren. Und doch ist das
noch nicht der größte Werth dieser köstlichen Episode. Es ist überhaupt keine
Episode, sondern sie bietet den Abschluß der Exposition der Handlung und
deutet an den ungewöhnlich ernsten Conflikt, welchen die, mit der ganzen Kraft
einer unverdorbenen Natur, der unglücklichen „Königin von Saba" sich zu¬
wendende Liebe des jungen Lynde zu besiegen haben wird. Nicht gesellschaft¬
liche Schranken oder konventionelle Vorurtheile, Unterschiede des Glaubens,
Vermögens, der Erziehung, politischer Meinungen oder Charakteranlagen,
werden ihn, so sagen wir uns, daran hindern, seine Liebe zu gewinnen. Er
wird zu kämpfen haben mit den finstern Mächten, welche den Geist des unglück¬
lichen Mädchens umnachten — „wie ich fürchte, hoffnungslos!" meint der
erfahrene Jrrenarzt. Damit ist die Erwartung des Lesers aufs Höchste ge-
. spannt. Psychologische Probleme von größter Kühnheit hofft man im weiteren
Laufe der Erzählung auftauchen und wenigstens versuchsweise gelöst zu sehen.
Als größtes stellt sich die Therapie des Wahnsinns durch die Liebe dar, in
einem Falle, den die nüchterne Wissenschaft für „hoffnungslos" erklärt. Ist
das die Absicht des Dichters? fragt man sich — Glückauf! Wie fein und poetisch
müssen die Scenen sich gestalten lassen, in denen der klare Geist, das reine Herz des
jungen Mannes durch die Erweckung der Gegenempfindung in dem unglücklichen
Mädchen allmählig immer größere geistige Klarheit in ihr schafft! Oder hat
der Dichter dem ernsten Konflikt, seiner eigenen Natur entsprechend, eine mehr
heitere Seite abgewonnen? Ist er ausgegangen von dem bekannten Erfahrungs¬
sätze der Jrrenheilkuude, daß uicht wenige anscheinend verzweifelte Fülle von
Geistesstörung dadurch geheilt werden, daß man auf den Irrwahn des Kranken
vollständig eingeht, ihn als durchaus vernünftig behandelt und ihm dann
plötzlich das Unmögliche seiner fixen Idee beweist, indem man ihn zwingt, die
letzten Konsequenzen derselben zu ziehe» oder mitanzusehen? Wird Lynde
etwa als König Snlvmvn sich etabliren, um die Königin von Saba vernünftig
zu machen?
Nichts von alledem in den folgenden zwei Dritteln der Erzählung. Wer
seine Erwartungen nach dem brillanten Aufbau der Handlung hoch spannte,
fühlt sich schmerzlich enttäuscht und erkennt mit steigender, aber keineswegs
angenehmer Verwunderung, daß dem Dichter bei dem ersten großen Akt, den
nur oben mittheilten, der Pust ausgegangen ist und die übrigen zwei Akte
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