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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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im letzten Jahrzehnt darlegte. Mitte Februar war die Broschüre bereits
vergriffe". Der Verfasser glaubte den Dank für diesen Erfolg am besten dadurch
abzustatten, daß er das von ihm behandelte Thema von neuem aufnahm und,
soweit dies überhaupt möglich ist, einer erschöpfenden Behandlung unterzog.
So wurde aus der Broschüre ein Buch. Sein Erscheinen bietet uns den will¬
kommenen Anlaß, darauf zurückzukommen.

Hier wie dort finden wir als Hanptbestreben Klarheit und Kürze. Beides
ist hier vielleicht schwieriger zu erreichen, als bei irgend einem andern histo¬
rischen Stoffe. Klarheit, weil sehr wenige der sozialistischen Führer diese
schätzenswerthe Eigenschaft selbst besitzen und die übrigen viele Jahre lang
absichtlich ihre letzten Hintergedanken verschleierten und dadurch dem Er¬
forscher ihrer Plane nud Wege seiue Aufgabe keineswegs erleichterten. Kürze
aber der Darstellung ist bei dem Berg von Makulatur, den die deutsche
Sozialdemokratie auf ihren Wühlgängeu aufgeworfen, vielleicht noch schwie¬
riger zu ermöglichen, als Klarheit. Klarheit und Kürze hat Mehring
gleichwohl erreicht. Er hat den Berg von Makulatur unverdrossen
durchsucht und bei Seite geschaufelt und darunter dentlich und frisch
die Spuren der Sozialdemokratie selbst nachgewiesen. Die Charaktere und
Gedanken, welche die sozialistische Bewegung bisher trugen, sind bis jetzt
in Deutschland noch nicht mit solcher Gründlichkeit und Klarheit gezeichnet
worden, als in dieser Schrift. Unseres Trachtens eher noch mit einer kleinen
Zuneigung des Verfassers zur Schönfärberei zu Gunsten der sozialistischen
Häuptlinge, der ethischen Berechtigung einerAnzahl von sozialistischen Forderungen,
als nach dem Gegentheil. Es läßt sich daher kaum ein deutlicheres Zeugniß
finden für die grenzenlose Intoleranz und Anmaßung der sozialistischen Pre߬
leitung, als die Thatsache, daß selten ein Schriftsteller mit solch einer Fluth von
Schmähungen und Verläumdungen ans dem sozialistischen Lager übergössen
worden ist, als Franz Mehring. Ihm, wie jedem andern, der dem giftigen
Gewürm gelegentlich einmal zu begegnen berufen ist, sicherlich der deutlichste
Fingerzeig, daß er sich auf dem richtigen Wege befindet.

Auf der einen Seite ist dem Verfasser die volle Erkenntniß der Thatsache,
daß der Sozialismus, wie er heute in Deutschland geartet ist, d. h. der erasseste
und vaterlaudsloseste Kommunismus, der denkbar ist, und der Gedanke des
modernen Staates, sich scheiden wie Feuer und Wasser, schwieriger geworden
als manchem Andern. Denn der Verfasser hat einst mit schwärmerischem Auge
zu der imponirenden Gestalt Lasalle's emporgeblickt, die Schicksale der Sozial¬
demokratie mit lebhaftem Interesse verfolgt. Damals schob er die größere
Hälfte der Schuld an der Verwilderung der Geister auf die stupide und un¬
gerechte Taktik vieler Gegner der Sozialdemokratie. In dieser Richtung hat


im letzten Jahrzehnt darlegte. Mitte Februar war die Broschüre bereits
vergriffe». Der Verfasser glaubte den Dank für diesen Erfolg am besten dadurch
abzustatten, daß er das von ihm behandelte Thema von neuem aufnahm und,
soweit dies überhaupt möglich ist, einer erschöpfenden Behandlung unterzog.
So wurde aus der Broschüre ein Buch. Sein Erscheinen bietet uns den will¬
kommenen Anlaß, darauf zurückzukommen.

Hier wie dort finden wir als Hanptbestreben Klarheit und Kürze. Beides
ist hier vielleicht schwieriger zu erreichen, als bei irgend einem andern histo¬
rischen Stoffe. Klarheit, weil sehr wenige der sozialistischen Führer diese
schätzenswerthe Eigenschaft selbst besitzen und die übrigen viele Jahre lang
absichtlich ihre letzten Hintergedanken verschleierten und dadurch dem Er¬
forscher ihrer Plane nud Wege seiue Aufgabe keineswegs erleichterten. Kürze
aber der Darstellung ist bei dem Berg von Makulatur, den die deutsche
Sozialdemokratie auf ihren Wühlgängeu aufgeworfen, vielleicht noch schwie¬
riger zu ermöglichen, als Klarheit. Klarheit und Kürze hat Mehring
gleichwohl erreicht. Er hat den Berg von Makulatur unverdrossen
durchsucht und bei Seite geschaufelt und darunter dentlich und frisch
die Spuren der Sozialdemokratie selbst nachgewiesen. Die Charaktere und
Gedanken, welche die sozialistische Bewegung bisher trugen, sind bis jetzt
in Deutschland noch nicht mit solcher Gründlichkeit und Klarheit gezeichnet
worden, als in dieser Schrift. Unseres Trachtens eher noch mit einer kleinen
Zuneigung des Verfassers zur Schönfärberei zu Gunsten der sozialistischen
Häuptlinge, der ethischen Berechtigung einerAnzahl von sozialistischen Forderungen,
als nach dem Gegentheil. Es läßt sich daher kaum ein deutlicheres Zeugniß
finden für die grenzenlose Intoleranz und Anmaßung der sozialistischen Pre߬
leitung, als die Thatsache, daß selten ein Schriftsteller mit solch einer Fluth von
Schmähungen und Verläumdungen ans dem sozialistischen Lager übergössen
worden ist, als Franz Mehring. Ihm, wie jedem andern, der dem giftigen
Gewürm gelegentlich einmal zu begegnen berufen ist, sicherlich der deutlichste
Fingerzeig, daß er sich auf dem richtigen Wege befindet.

Auf der einen Seite ist dem Verfasser die volle Erkenntniß der Thatsache,
daß der Sozialismus, wie er heute in Deutschland geartet ist, d. h. der erasseste
und vaterlaudsloseste Kommunismus, der denkbar ist, und der Gedanke des
modernen Staates, sich scheiden wie Feuer und Wasser, schwieriger geworden
als manchem Andern. Denn der Verfasser hat einst mit schwärmerischem Auge
zu der imponirenden Gestalt Lasalle's emporgeblickt, die Schicksale der Sozial¬
demokratie mit lebhaftem Interesse verfolgt. Damals schob er die größere
Hälfte der Schuld an der Verwilderung der Geister auf die stupide und un¬
gerechte Taktik vieler Gegner der Sozialdemokratie. In dieser Richtung hat


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[0322] im letzten Jahrzehnt darlegte. Mitte Februar war die Broschüre bereits vergriffe». Der Verfasser glaubte den Dank für diesen Erfolg am besten dadurch abzustatten, daß er das von ihm behandelte Thema von neuem aufnahm und, soweit dies überhaupt möglich ist, einer erschöpfenden Behandlung unterzog. So wurde aus der Broschüre ein Buch. Sein Erscheinen bietet uns den will¬ kommenen Anlaß, darauf zurückzukommen. Hier wie dort finden wir als Hanptbestreben Klarheit und Kürze. Beides ist hier vielleicht schwieriger zu erreichen, als bei irgend einem andern histo¬ rischen Stoffe. Klarheit, weil sehr wenige der sozialistischen Führer diese schätzenswerthe Eigenschaft selbst besitzen und die übrigen viele Jahre lang absichtlich ihre letzten Hintergedanken verschleierten und dadurch dem Er¬ forscher ihrer Plane nud Wege seiue Aufgabe keineswegs erleichterten. Kürze aber der Darstellung ist bei dem Berg von Makulatur, den die deutsche Sozialdemokratie auf ihren Wühlgängeu aufgeworfen, vielleicht noch schwie¬ riger zu ermöglichen, als Klarheit. Klarheit und Kürze hat Mehring gleichwohl erreicht. Er hat den Berg von Makulatur unverdrossen durchsucht und bei Seite geschaufelt und darunter dentlich und frisch die Spuren der Sozialdemokratie selbst nachgewiesen. Die Charaktere und Gedanken, welche die sozialistische Bewegung bisher trugen, sind bis jetzt in Deutschland noch nicht mit solcher Gründlichkeit und Klarheit gezeichnet worden, als in dieser Schrift. Unseres Trachtens eher noch mit einer kleinen Zuneigung des Verfassers zur Schönfärberei zu Gunsten der sozialistischen Häuptlinge, der ethischen Berechtigung einerAnzahl von sozialistischen Forderungen, als nach dem Gegentheil. Es läßt sich daher kaum ein deutlicheres Zeugniß finden für die grenzenlose Intoleranz und Anmaßung der sozialistischen Pre߬ leitung, als die Thatsache, daß selten ein Schriftsteller mit solch einer Fluth von Schmähungen und Verläumdungen ans dem sozialistischen Lager übergössen worden ist, als Franz Mehring. Ihm, wie jedem andern, der dem giftigen Gewürm gelegentlich einmal zu begegnen berufen ist, sicherlich der deutlichste Fingerzeig, daß er sich auf dem richtigen Wege befindet. Auf der einen Seite ist dem Verfasser die volle Erkenntniß der Thatsache, daß der Sozialismus, wie er heute in Deutschland geartet ist, d. h. der erasseste und vaterlaudsloseste Kommunismus, der denkbar ist, und der Gedanke des modernen Staates, sich scheiden wie Feuer und Wasser, schwieriger geworden als manchem Andern. Denn der Verfasser hat einst mit schwärmerischem Auge zu der imponirenden Gestalt Lasalle's emporgeblickt, die Schicksale der Sozial¬ demokratie mit lebhaftem Interesse verfolgt. Damals schob er die größere Hälfte der Schuld an der Verwilderung der Geister auf die stupide und un¬ gerechte Taktik vieler Gegner der Sozialdemokratie. In dieser Richtung hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/322>, abgerufen am 26.06.2024.