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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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alten Gallier" abstammen. Namentlich sei es eine schmähliche Verläumdung,
d"ß die edle Keltenraee dnrch das niedrige Germanenblut der Franken und
Normannen verunreinigt sei. Bis jetzt war man in Europa ziemlich allgemein
der Ansicht, daß die heutigen Franzosen, ebenso wie alle übrigen Volker Enropas,
die skandinavische Familie ausgenommen, ein Mischvolk seien. Dunklen Nach,
richten zufolge nahmen wir mangelhaft unterrichteten Deutschen bisher an, daß
"n südlichen Frankreich, der Meeresküste entlang, so eine Kleinigkeit von etwa
WO Jahren hindurch phönizische und griechische, vielleicht auch etrurische
Kolonien, mit mehr oder minder starkem Einfluß und recht starker Kopfzahl
Mirt haben; daß hierauf gegen 400 Jahre römische Herrschaft mit sehr
intensiver Racenkreuzung gefolgt sei. Auch glaubten wir Ignoranten bisher
Senf und fest, daß die gewaltigen Wellen jenes Völkerstammes, der vom vierten
Jahrhundert nach Chr. an, sich von der Wolga her über Europa ergoß, die
Alanen, Sueveu, Vandalen und Westgothen quer durch das mittlere und süd¬
liche Frankreich geführt haben, und zwar durchaus nicht mit jeuer affenartigen
Geschwindigkeit, welche später das greuliche Mischvolk der berüchtigten Preußen
bewiesen hat. Finden wir doch schon im Jahre 419 die Westgothen als Herren
Aquitaniens im Süden, Burgunder und Franken im Norden, und sehen wir
später, 451, Aetius in der Schlacht auf den katalaunischen Gefilden verbündet
mit dem Alanenkvnig Sangipcm, dessen Volk an den Ufern der Loire vorläufig
habhaft geworden war. Selbst die am frühesten weiterziehenden Eindringlinge,
die von den Westgothen gedrängten Sueven, waren doch immer ein Menschen¬
alter hindurch an Ort und Stelle geblieben. So war denn eigentlich nur
Armorica, die heutige Bretagne und Vendee, bis nach der Gegend von le Mans
"n reines Gallicrland geblieben, das fogar von Honorius als selbständige Re¬
publik anerkannt wurde. Später kamen dann noch die Normannen hinzu.
Alles dies wird unterstützt durch die Ergebnisse der vergleichenden Sprach¬
wissenschaft. Alles das aber ist für den Uebersetzer Cäsars einfach nicht vor¬
handen. Herr Ncville gibt sich gar nicht die Mühe, erst gegen diese falschen
Thatsachen einer parteiische Weltgeschichte anzukämpfen. Er versichert einfach
"nige zwanzig Mal im Verlaufe seiner Arbeit das Gegentheil, nämlich, daß
die heutigen Franzosen direkt von den alten Galliern fast ganz unvermischt
abstammen; wer es uicht glaubt, der ist einfach - ein Verräther, ein Prussieu,
wozu er schließlich natürlich auch den Marschall Bazaine wegen seiner Kapitu¬
lation von Metz stempelt. Ganz besonders erbittert zeigt sich dabei der fran¬
zösische Forscher gegen Mommsen. Wir Deutschen wußten bisher vou Mommsen
"ur, daß wir ihm ein Werk über römische Geschichte verdanken, welches bis
jetzt im Großen und Ganzen unübertroffen dasteht. Dem Scharfsinn des frän¬
kischen Autors dagegen ist eine neue Auffassung der Werke des Historikers


alten Gallier» abstammen. Namentlich sei es eine schmähliche Verläumdung,
dȧ die edle Keltenraee dnrch das niedrige Germanenblut der Franken und
Normannen verunreinigt sei. Bis jetzt war man in Europa ziemlich allgemein
der Ansicht, daß die heutigen Franzosen, ebenso wie alle übrigen Volker Enropas,
die skandinavische Familie ausgenommen, ein Mischvolk seien. Dunklen Nach,
richten zufolge nahmen wir mangelhaft unterrichteten Deutschen bisher an, daß
"n südlichen Frankreich, der Meeresküste entlang, so eine Kleinigkeit von etwa
WO Jahren hindurch phönizische und griechische, vielleicht auch etrurische
Kolonien, mit mehr oder minder starkem Einfluß und recht starker Kopfzahl
Mirt haben; daß hierauf gegen 400 Jahre römische Herrschaft mit sehr
intensiver Racenkreuzung gefolgt sei. Auch glaubten wir Ignoranten bisher
Senf und fest, daß die gewaltigen Wellen jenes Völkerstammes, der vom vierten
Jahrhundert nach Chr. an, sich von der Wolga her über Europa ergoß, die
Alanen, Sueveu, Vandalen und Westgothen quer durch das mittlere und süd¬
liche Frankreich geführt haben, und zwar durchaus nicht mit jeuer affenartigen
Geschwindigkeit, welche später das greuliche Mischvolk der berüchtigten Preußen
bewiesen hat. Finden wir doch schon im Jahre 419 die Westgothen als Herren
Aquitaniens im Süden, Burgunder und Franken im Norden, und sehen wir
später, 451, Aetius in der Schlacht auf den katalaunischen Gefilden verbündet
mit dem Alanenkvnig Sangipcm, dessen Volk an den Ufern der Loire vorläufig
habhaft geworden war. Selbst die am frühesten weiterziehenden Eindringlinge,
die von den Westgothen gedrängten Sueven, waren doch immer ein Menschen¬
alter hindurch an Ort und Stelle geblieben. So war denn eigentlich nur
Armorica, die heutige Bretagne und Vendee, bis nach der Gegend von le Mans
«n reines Gallicrland geblieben, das fogar von Honorius als selbständige Re¬
publik anerkannt wurde. Später kamen dann noch die Normannen hinzu.
Alles dies wird unterstützt durch die Ergebnisse der vergleichenden Sprach¬
wissenschaft. Alles das aber ist für den Uebersetzer Cäsars einfach nicht vor¬
handen. Herr Ncville gibt sich gar nicht die Mühe, erst gegen diese falschen
Thatsachen einer parteiische Weltgeschichte anzukämpfen. Er versichert einfach
"nige zwanzig Mal im Verlaufe seiner Arbeit das Gegentheil, nämlich, daß
die heutigen Franzosen direkt von den alten Galliern fast ganz unvermischt
abstammen; wer es uicht glaubt, der ist einfach - ein Verräther, ein Prussieu,
wozu er schließlich natürlich auch den Marschall Bazaine wegen seiner Kapitu¬
lation von Metz stempelt. Ganz besonders erbittert zeigt sich dabei der fran¬
zösische Forscher gegen Mommsen. Wir Deutschen wußten bisher vou Mommsen
"ur, daß wir ihm ein Werk über römische Geschichte verdanken, welches bis
jetzt im Großen und Ganzen unübertroffen dasteht. Dem Scharfsinn des frän¬
kischen Autors dagegen ist eine neue Auffassung der Werke des Historikers


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[0271] alten Gallier» abstammen. Namentlich sei es eine schmähliche Verläumdung, d»ß die edle Keltenraee dnrch das niedrige Germanenblut der Franken und Normannen verunreinigt sei. Bis jetzt war man in Europa ziemlich allgemein der Ansicht, daß die heutigen Franzosen, ebenso wie alle übrigen Volker Enropas, die skandinavische Familie ausgenommen, ein Mischvolk seien. Dunklen Nach, richten zufolge nahmen wir mangelhaft unterrichteten Deutschen bisher an, daß "n südlichen Frankreich, der Meeresküste entlang, so eine Kleinigkeit von etwa WO Jahren hindurch phönizische und griechische, vielleicht auch etrurische Kolonien, mit mehr oder minder starkem Einfluß und recht starker Kopfzahl Mirt haben; daß hierauf gegen 400 Jahre römische Herrschaft mit sehr intensiver Racenkreuzung gefolgt sei. Auch glaubten wir Ignoranten bisher Senf und fest, daß die gewaltigen Wellen jenes Völkerstammes, der vom vierten Jahrhundert nach Chr. an, sich von der Wolga her über Europa ergoß, die Alanen, Sueveu, Vandalen und Westgothen quer durch das mittlere und süd¬ liche Frankreich geführt haben, und zwar durchaus nicht mit jeuer affenartigen Geschwindigkeit, welche später das greuliche Mischvolk der berüchtigten Preußen bewiesen hat. Finden wir doch schon im Jahre 419 die Westgothen als Herren Aquitaniens im Süden, Burgunder und Franken im Norden, und sehen wir später, 451, Aetius in der Schlacht auf den katalaunischen Gefilden verbündet mit dem Alanenkvnig Sangipcm, dessen Volk an den Ufern der Loire vorläufig habhaft geworden war. Selbst die am frühesten weiterziehenden Eindringlinge, die von den Westgothen gedrängten Sueven, waren doch immer ein Menschen¬ alter hindurch an Ort und Stelle geblieben. So war denn eigentlich nur Armorica, die heutige Bretagne und Vendee, bis nach der Gegend von le Mans «n reines Gallicrland geblieben, das fogar von Honorius als selbständige Re¬ publik anerkannt wurde. Später kamen dann noch die Normannen hinzu. Alles dies wird unterstützt durch die Ergebnisse der vergleichenden Sprach¬ wissenschaft. Alles das aber ist für den Uebersetzer Cäsars einfach nicht vor¬ handen. Herr Ncville gibt sich gar nicht die Mühe, erst gegen diese falschen Thatsachen einer parteiische Weltgeschichte anzukämpfen. Er versichert einfach "nige zwanzig Mal im Verlaufe seiner Arbeit das Gegentheil, nämlich, daß die heutigen Franzosen direkt von den alten Galliern fast ganz unvermischt abstammen; wer es uicht glaubt, der ist einfach - ein Verräther, ein Prussieu, wozu er schließlich natürlich auch den Marschall Bazaine wegen seiner Kapitu¬ lation von Metz stempelt. Ganz besonders erbittert zeigt sich dabei der fran¬ zösische Forscher gegen Mommsen. Wir Deutschen wußten bisher vou Mommsen "ur, daß wir ihm ein Werk über römische Geschichte verdanken, welches bis jetzt im Großen und Ganzen unübertroffen dasteht. Dem Scharfsinn des frän¬ kischen Autors dagegen ist eine neue Auffassung der Werke des Historikers

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/271>, abgerufen am 22.07.2024.