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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Wußtseins hatte aufgehört, der Zersetzungsprozeß begonnen. Im Prediger waltet
der Geist des Zweifels, dem es ungewiß bleibt, ob nach den: Tode ein anderes
Loos des Menschen wartet als des Viehs, ob der Geist des Menschen aus-
wärts fährt und der Odem des Viehs unterwärts unter die Erde -- 3,
19--21. -- Dagegen hält das Buch Sirach an der älteren Vorstellung fest.
Das Buch der Weisheit endlich blickt nicht sowohl hoffnungsvoll nach einer
Erlösung aus dem Todeszustande durch die Auferstehung, sondern getröstet sich
eines ewigen unsterblichen Lebens in der Gemeinschaft mit Gott, hier beginnend,
unmittelbar uach dem Tode sich vollendend. Wir sehen, die Fortbildung der
israelitischen Eschatologie hat unter dem Einfluß fremder Anschauungen stattge¬
funden, die Idee der Auferstehung ist ans persische, die Idee der Unsterblichkeit
im Sinne des Buchs der Weisheit auf hellenische Einwirkungen zurückzuführen.
Die Aufnahme dieser Vorstellungen war aber keine mechanische, sondern eine
organische, eine innere Assimilation mit Ausscheidung der heterogenen Bestand¬
theile. Jetzt war diese Erweiterung des Blicks in das Jenseits ohne Gefahr,
der polytheistische Hang des Volkes hatte längst aufgehört. Ja noch mehr, sie
war unendlich werthvoll. Die Synagoge Israels sollte ja die Aufgabe lösen,
der suchenden Heidenwelt einen vorläufigen Halt zu geben, sie zu sammeln,
damit durch ihre Vermittelung dem Evangelium der Weg gebahnt werde; eine
Aufgabe, die sie nicht lösen konnte, ohne durch Aufnahme der Wahrheitselemente
des Heidenthnmes die eigne Lehre zu ergänzen.

Wir haben im Wesentlichen drei eschatvlogische Richtungen kennen gelernt,
die wir in den drei religiösen Parteien zur Zeit Christi wieder finden. Die
altisraelische Vorstellung wird durch die Sadduzäer, der Anferstehungsgla-the
durch die Pharisäer, die Uusterblichkeitsidee durch die Essäer vertrete", jedoch
so, daß hier schon eine gewisse Mischung der ursprünglich geschiedenen Anschau¬
ungen vor sich gegangen ist!

Die Eschatologie des Muhammedanismus, auf welche zuletzt unser Blick
gelenkt wird, ist, wie er selbst, aus christlichen, jüdischen und persischen Vor¬
stellungen kombinirt. Ein vorläufiges Gericht unmittelbar nach dem Tode,
ein Zwischenzustand, eine Auferstehung des Fleisches, an welche sich das
entscheidende Gericht schließt, ein Himmel und eine Hölle, ans welcher letzterett
nur einst die Moslim entrinnen werden, beide Orte durch eine unausfüllbare
Kluft von einander getrennt, das sind ihre wesentlichen Bestandtheile. Aber
eine eigenthümliche Stimmung empfängt sie durch die Fülle farbiger Bilder,
mit welcher eine maßlose Phantasie das Jenseits ausgestattet hat, und durch
die Anschaulichkeit, in welcher dasselbe dadurch dem Glauben erscheint. Das
Jenseits ist nichts anderes als das gesteigerte Diesseits. Alle Sinnenlust, die
das irdische Dasein gewährt, ist im Paradies gesammelt; und alle Qualen,


Wußtseins hatte aufgehört, der Zersetzungsprozeß begonnen. Im Prediger waltet
der Geist des Zweifels, dem es ungewiß bleibt, ob nach den: Tode ein anderes
Loos des Menschen wartet als des Viehs, ob der Geist des Menschen aus-
wärts fährt und der Odem des Viehs unterwärts unter die Erde — 3,
19—21. — Dagegen hält das Buch Sirach an der älteren Vorstellung fest.
Das Buch der Weisheit endlich blickt nicht sowohl hoffnungsvoll nach einer
Erlösung aus dem Todeszustande durch die Auferstehung, sondern getröstet sich
eines ewigen unsterblichen Lebens in der Gemeinschaft mit Gott, hier beginnend,
unmittelbar uach dem Tode sich vollendend. Wir sehen, die Fortbildung der
israelitischen Eschatologie hat unter dem Einfluß fremder Anschauungen stattge¬
funden, die Idee der Auferstehung ist ans persische, die Idee der Unsterblichkeit
im Sinne des Buchs der Weisheit auf hellenische Einwirkungen zurückzuführen.
Die Aufnahme dieser Vorstellungen war aber keine mechanische, sondern eine
organische, eine innere Assimilation mit Ausscheidung der heterogenen Bestand¬
theile. Jetzt war diese Erweiterung des Blicks in das Jenseits ohne Gefahr,
der polytheistische Hang des Volkes hatte längst aufgehört. Ja noch mehr, sie
war unendlich werthvoll. Die Synagoge Israels sollte ja die Aufgabe lösen,
der suchenden Heidenwelt einen vorläufigen Halt zu geben, sie zu sammeln,
damit durch ihre Vermittelung dem Evangelium der Weg gebahnt werde; eine
Aufgabe, die sie nicht lösen konnte, ohne durch Aufnahme der Wahrheitselemente
des Heidenthnmes die eigne Lehre zu ergänzen.

Wir haben im Wesentlichen drei eschatvlogische Richtungen kennen gelernt,
die wir in den drei religiösen Parteien zur Zeit Christi wieder finden. Die
altisraelische Vorstellung wird durch die Sadduzäer, der Anferstehungsgla-the
durch die Pharisäer, die Uusterblichkeitsidee durch die Essäer vertrete«, jedoch
so, daß hier schon eine gewisse Mischung der ursprünglich geschiedenen Anschau¬
ungen vor sich gegangen ist!

Die Eschatologie des Muhammedanismus, auf welche zuletzt unser Blick
gelenkt wird, ist, wie er selbst, aus christlichen, jüdischen und persischen Vor¬
stellungen kombinirt. Ein vorläufiges Gericht unmittelbar nach dem Tode,
ein Zwischenzustand, eine Auferstehung des Fleisches, an welche sich das
entscheidende Gericht schließt, ein Himmel und eine Hölle, ans welcher letzterett
nur einst die Moslim entrinnen werden, beide Orte durch eine unausfüllbare
Kluft von einander getrennt, das sind ihre wesentlichen Bestandtheile. Aber
eine eigenthümliche Stimmung empfängt sie durch die Fülle farbiger Bilder,
mit welcher eine maßlose Phantasie das Jenseits ausgestattet hat, und durch
die Anschaulichkeit, in welcher dasselbe dadurch dem Glauben erscheint. Das
Jenseits ist nichts anderes als das gesteigerte Diesseits. Alle Sinnenlust, die
das irdische Dasein gewährt, ist im Paradies gesammelt; und alle Qualen,


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[0258] Wußtseins hatte aufgehört, der Zersetzungsprozeß begonnen. Im Prediger waltet der Geist des Zweifels, dem es ungewiß bleibt, ob nach den: Tode ein anderes Loos des Menschen wartet als des Viehs, ob der Geist des Menschen aus- wärts fährt und der Odem des Viehs unterwärts unter die Erde — 3, 19—21. — Dagegen hält das Buch Sirach an der älteren Vorstellung fest. Das Buch der Weisheit endlich blickt nicht sowohl hoffnungsvoll nach einer Erlösung aus dem Todeszustande durch die Auferstehung, sondern getröstet sich eines ewigen unsterblichen Lebens in der Gemeinschaft mit Gott, hier beginnend, unmittelbar uach dem Tode sich vollendend. Wir sehen, die Fortbildung der israelitischen Eschatologie hat unter dem Einfluß fremder Anschauungen stattge¬ funden, die Idee der Auferstehung ist ans persische, die Idee der Unsterblichkeit im Sinne des Buchs der Weisheit auf hellenische Einwirkungen zurückzuführen. Die Aufnahme dieser Vorstellungen war aber keine mechanische, sondern eine organische, eine innere Assimilation mit Ausscheidung der heterogenen Bestand¬ theile. Jetzt war diese Erweiterung des Blicks in das Jenseits ohne Gefahr, der polytheistische Hang des Volkes hatte längst aufgehört. Ja noch mehr, sie war unendlich werthvoll. Die Synagoge Israels sollte ja die Aufgabe lösen, der suchenden Heidenwelt einen vorläufigen Halt zu geben, sie zu sammeln, damit durch ihre Vermittelung dem Evangelium der Weg gebahnt werde; eine Aufgabe, die sie nicht lösen konnte, ohne durch Aufnahme der Wahrheitselemente des Heidenthnmes die eigne Lehre zu ergänzen. Wir haben im Wesentlichen drei eschatvlogische Richtungen kennen gelernt, die wir in den drei religiösen Parteien zur Zeit Christi wieder finden. Die altisraelische Vorstellung wird durch die Sadduzäer, der Anferstehungsgla-the durch die Pharisäer, die Uusterblichkeitsidee durch die Essäer vertrete«, jedoch so, daß hier schon eine gewisse Mischung der ursprünglich geschiedenen Anschau¬ ungen vor sich gegangen ist! Die Eschatologie des Muhammedanismus, auf welche zuletzt unser Blick gelenkt wird, ist, wie er selbst, aus christlichen, jüdischen und persischen Vor¬ stellungen kombinirt. Ein vorläufiges Gericht unmittelbar nach dem Tode, ein Zwischenzustand, eine Auferstehung des Fleisches, an welche sich das entscheidende Gericht schließt, ein Himmel und eine Hölle, ans welcher letzterett nur einst die Moslim entrinnen werden, beide Orte durch eine unausfüllbare Kluft von einander getrennt, das sind ihre wesentlichen Bestandtheile. Aber eine eigenthümliche Stimmung empfängt sie durch die Fülle farbiger Bilder, mit welcher eine maßlose Phantasie das Jenseits ausgestattet hat, und durch die Anschaulichkeit, in welcher dasselbe dadurch dem Glauben erscheint. Das Jenseits ist nichts anderes als das gesteigerte Diesseits. Alle Sinnenlust, die das irdische Dasein gewährt, ist im Paradies gesammelt; und alle Qualen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/258>, abgerufen am 24.07.2024.