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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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übertriebene und schädliche Theilung der Arbeit. Ich weiß, daß es für die¬
selben kein leichtes sein kann, nachdem sie an einem Tag vier, sechs oder acht
Vorlesungen über verschiedene Gegenstände gehört haben, ans diesen ver¬
schiedenen Stoffen das Einheitliche herauszufinden. Aber der Studirende darf
den Versuch hierzu nicht von der Hand weisen; denn auch ein halb mißlun¬
gener Versuch dieser Art ist schon ein kleiner Erfolg. Wie das Zerstören
leichter ist, als das Aufbauen, so ist das Trennen leichter, als das Vereinen.
Gelingt es der Thätigkeit des Gedankens, die aus einander gelegten und aus
einander gezogenen Fäden einer wissenschaftlichen Disziplin oder einer ganzen
Wissenschaft wieder zusammenzufügen und gegen den Mittelpunkt zu verfolgen,
von welchem die Fäden auslaufen, so hat die Gedankenarbeit ein gutes Werk
verrichtet. Der Lernende darf in dieser Beziehung nicht alles und nicht einmal
Vieles von seinen Lehrern fordern; denn die Lehraufgaben haben nun einmal
das Schicksal gehabt, in vielfache Theile getrennt werden zu müssen, und an
den lernenden Commilitonen ist es, die getrennten Stücke wieder einheitlich zu¬
sammen zu fügen. Der Versuch hierzu wird auch vor der naheliegenden Gefahr
behüten, daß der Student auf eigene Hand in die Bahn der Gegner unserer
Universitäten einlenkt, welche dieselben in einzelne Fachschulen zerlegen
wollen. Vermeide der Studirende die Gefahr, daß er von vornherein seine
lernende Arbeit ans ein kleines Stückchen Fachwissenschaft zuspitze! Eine
solche Gefahr ist wirklich vorhanden; habe ich es doch selbst erlebt, daß
mir Medizinstudirende im 5. und 6. Semester erklärt haben: sie wollten künftig
Fachchirurgen werden und beabsichtigten deshalb in ihren letzten Semestern
möglichst ausschließlich Chirurgie zu studiren. Nun kann man es nicht tadeln,
daß jeder Lernende schon im Beginn seiner Arbeit für einen bestimmten Theil
derselben eine vorwiegende Neigung ausbildet; aber verderblich würde es sein,
wenn diese Neigung den ganzen Gang der lernenden Arbeit bestimmte und
beherrschte. Wohl schiebt hier die Einrichtung der Prüfungen einen wirksamen
Riegel vor die übertriebenen Sonderbestrebungen im Lernen; aber nicht minder
wirksam muß die im Lernenden zu erweckende und zu kräftigende Ueberzeugung
sein, daß der Weg zu einem besondern Fach immer nur von dem Mittelpunkt
einer Wissenschaft aus gesucht werden darf und gefunden werden kann. E^r
muß man sich von allen Fächern einer Wissenschaft ein mindestens mittleres
Maaß von Kenntnissen erworben haben, bevor man versucht, seine Kräfte an
einem bestimmten einzelnen Fach auf ihre wirkliche Leistungsfähigkeit zu
erproben. Alle Theilung der Lehrarbeit, wie sie sich nun einmal vollzogen hat,
muß von dem Lernenden nicht als eine Aufforderung betrachtet werden, auch
das Gelernte in einzelnen Stücken getrennt zu lassen, sondern vielmehr als


übertriebene und schädliche Theilung der Arbeit. Ich weiß, daß es für die¬
selben kein leichtes sein kann, nachdem sie an einem Tag vier, sechs oder acht
Vorlesungen über verschiedene Gegenstände gehört haben, ans diesen ver¬
schiedenen Stoffen das Einheitliche herauszufinden. Aber der Studirende darf
den Versuch hierzu nicht von der Hand weisen; denn auch ein halb mißlun¬
gener Versuch dieser Art ist schon ein kleiner Erfolg. Wie das Zerstören
leichter ist, als das Aufbauen, so ist das Trennen leichter, als das Vereinen.
Gelingt es der Thätigkeit des Gedankens, die aus einander gelegten und aus
einander gezogenen Fäden einer wissenschaftlichen Disziplin oder einer ganzen
Wissenschaft wieder zusammenzufügen und gegen den Mittelpunkt zu verfolgen,
von welchem die Fäden auslaufen, so hat die Gedankenarbeit ein gutes Werk
verrichtet. Der Lernende darf in dieser Beziehung nicht alles und nicht einmal
Vieles von seinen Lehrern fordern; denn die Lehraufgaben haben nun einmal
das Schicksal gehabt, in vielfache Theile getrennt werden zu müssen, und an
den lernenden Commilitonen ist es, die getrennten Stücke wieder einheitlich zu¬
sammen zu fügen. Der Versuch hierzu wird auch vor der naheliegenden Gefahr
behüten, daß der Student auf eigene Hand in die Bahn der Gegner unserer
Universitäten einlenkt, welche dieselben in einzelne Fachschulen zerlegen
wollen. Vermeide der Studirende die Gefahr, daß er von vornherein seine
lernende Arbeit ans ein kleines Stückchen Fachwissenschaft zuspitze! Eine
solche Gefahr ist wirklich vorhanden; habe ich es doch selbst erlebt, daß
mir Medizinstudirende im 5. und 6. Semester erklärt haben: sie wollten künftig
Fachchirurgen werden und beabsichtigten deshalb in ihren letzten Semestern
möglichst ausschließlich Chirurgie zu studiren. Nun kann man es nicht tadeln,
daß jeder Lernende schon im Beginn seiner Arbeit für einen bestimmten Theil
derselben eine vorwiegende Neigung ausbildet; aber verderblich würde es sein,
wenn diese Neigung den ganzen Gang der lernenden Arbeit bestimmte und
beherrschte. Wohl schiebt hier die Einrichtung der Prüfungen einen wirksamen
Riegel vor die übertriebenen Sonderbestrebungen im Lernen; aber nicht minder
wirksam muß die im Lernenden zu erweckende und zu kräftigende Ueberzeugung
sein, daß der Weg zu einem besondern Fach immer nur von dem Mittelpunkt
einer Wissenschaft aus gesucht werden darf und gefunden werden kann. E^r
muß man sich von allen Fächern einer Wissenschaft ein mindestens mittleres
Maaß von Kenntnissen erworben haben, bevor man versucht, seine Kräfte an
einem bestimmten einzelnen Fach auf ihre wirkliche Leistungsfähigkeit zu
erproben. Alle Theilung der Lehrarbeit, wie sie sich nun einmal vollzogen hat,
muß von dem Lernenden nicht als eine Aufforderung betrachtet werden, auch
das Gelernte in einzelnen Stücken getrennt zu lassen, sondern vielmehr als


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[0230] übertriebene und schädliche Theilung der Arbeit. Ich weiß, daß es für die¬ selben kein leichtes sein kann, nachdem sie an einem Tag vier, sechs oder acht Vorlesungen über verschiedene Gegenstände gehört haben, ans diesen ver¬ schiedenen Stoffen das Einheitliche herauszufinden. Aber der Studirende darf den Versuch hierzu nicht von der Hand weisen; denn auch ein halb mißlun¬ gener Versuch dieser Art ist schon ein kleiner Erfolg. Wie das Zerstören leichter ist, als das Aufbauen, so ist das Trennen leichter, als das Vereinen. Gelingt es der Thätigkeit des Gedankens, die aus einander gelegten und aus einander gezogenen Fäden einer wissenschaftlichen Disziplin oder einer ganzen Wissenschaft wieder zusammenzufügen und gegen den Mittelpunkt zu verfolgen, von welchem die Fäden auslaufen, so hat die Gedankenarbeit ein gutes Werk verrichtet. Der Lernende darf in dieser Beziehung nicht alles und nicht einmal Vieles von seinen Lehrern fordern; denn die Lehraufgaben haben nun einmal das Schicksal gehabt, in vielfache Theile getrennt werden zu müssen, und an den lernenden Commilitonen ist es, die getrennten Stücke wieder einheitlich zu¬ sammen zu fügen. Der Versuch hierzu wird auch vor der naheliegenden Gefahr behüten, daß der Student auf eigene Hand in die Bahn der Gegner unserer Universitäten einlenkt, welche dieselben in einzelne Fachschulen zerlegen wollen. Vermeide der Studirende die Gefahr, daß er von vornherein seine lernende Arbeit ans ein kleines Stückchen Fachwissenschaft zuspitze! Eine solche Gefahr ist wirklich vorhanden; habe ich es doch selbst erlebt, daß mir Medizinstudirende im 5. und 6. Semester erklärt haben: sie wollten künftig Fachchirurgen werden und beabsichtigten deshalb in ihren letzten Semestern möglichst ausschließlich Chirurgie zu studiren. Nun kann man es nicht tadeln, daß jeder Lernende schon im Beginn seiner Arbeit für einen bestimmten Theil derselben eine vorwiegende Neigung ausbildet; aber verderblich würde es sein, wenn diese Neigung den ganzen Gang der lernenden Arbeit bestimmte und beherrschte. Wohl schiebt hier die Einrichtung der Prüfungen einen wirksamen Riegel vor die übertriebenen Sonderbestrebungen im Lernen; aber nicht minder wirksam muß die im Lernenden zu erweckende und zu kräftigende Ueberzeugung sein, daß der Weg zu einem besondern Fach immer nur von dem Mittelpunkt einer Wissenschaft aus gesucht werden darf und gefunden werden kann. E^r muß man sich von allen Fächern einer Wissenschaft ein mindestens mittleres Maaß von Kenntnissen erworben haben, bevor man versucht, seine Kräfte an einem bestimmten einzelnen Fach auf ihre wirkliche Leistungsfähigkeit zu erproben. Alle Theilung der Lehrarbeit, wie sie sich nun einmal vollzogen hat, muß von dem Lernenden nicht als eine Aufforderung betrachtet werden, auch das Gelernte in einzelnen Stücken getrennt zu lassen, sondern vielmehr als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/230>, abgerufen am 03.07.2024.