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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Derselbe Forscher, dein, .wie in diesen Blättern scholl früher gesagt wor-


Hardenberg, eine falsche gewesen; das System der Neutralität, dein man sich
hingegeben, trage die Schuld an Preußens Unglück; aber er widerstreitet mit
aller Energie der aufgestellten Ansicht, als ob er selbst dies System gebilligt
habe; er will vielmehr zeigen, daß er innerlich dem maßgebenden Systeme
widerstrebt, daß er eine entschiedenere, prinzipiellere, kraftvollere Haltung als
Minister wiederholt angerathen und Anläufe zu einer solchen gemacht habe:
wäre man seinem Rathe mehr gefolgt, so würde man vielleicht dein Unheil,
von dem man bedroht war, zu entgehen vermocht haben. Dieser Gedanke zieht
sich durch die ganze Schrift hindurch. Es erhebt sich deßhalb die Frage: ist
diese Behauptung thatsächlich richtig? stimmen die Resultate akteumäßiger Studien
mit der Behauptung Hardenberg's von seiner Opposition gegen die herrschende
Richtung u. s. w. überein? hat wirklich Hardenberg sich in den Jahren 1805
und 1806 so verhalten, wie er bald nachher 1808 in seiner Denkschrift von
sich selbst es aussagt? Der Herausgeber hat sich diese Frage natürlich vorzu¬
legen gehabt, er hat schon eine Reihe von Fällen namhaft gemacht, in welchen
die von Hardenberg selbst seiner Schrift beigefügten Urkunden den von ihm
vorgetragenen Erinnerungen widersprechen (z. B. I, 552, 565, III. 193); er
urtheilt darüber, daß man Hardenberg deßhalb nicht eine bewußte Unwahr-
haftigkeit Schuld geben dürfe: "Hardenberg schrieb unter dem Eindrucke daß
man energischer hätte handeln sollen, und sucht den Fehler, der auch sein
eigener war, nur in Andern." Und so gestaltet sich in der That das Ergebniß
der kritischen Prüfung. Nach dem Kriege von 1806 war Hardenberg auf das
lebendigste von der Ueberzeugung durchdrungen, daß Preußens Heil nicht in
der so lange behaupteten Neutralität, sondern allein in einer entschiedeneren
Parteinahme gegen Napoleon, in einem Anschlusse an die großen Mächte Eng-
land und Rußland und wohl auch Oesterreich hätte gesucht werden müssen.
Nach 1806 wirkte und lebte Hardenberg energischer und konsequenter als alle
anderen preußischen Minister sür die Verwirklichung dieses Programmes: schon
im Frühjahr 1807 wagte er den letzten Versuch einer Rettung Preußens, indem
er mit großartiger Beharrlichkeit und Festigkeit diesen Gedanken zum Mittel¬
punkt seiner neuen leitenden Stellung erhob. Und das Unglück des Sommers
1807 befestigte in seinem Geiste immer massiver diese Ueberzeugung; sie wurde
in ihm gleichsam ein natürliches Axiom. Nun aber übertrug er, auf die jüngste
Vergangenheit zurückblickend, das neue Programm, an das seine Seele sich jetzt
anklammerte, auch in jene früheren Tage, in denen es sich noch nicht zur
Klarheit bei ihm durchgearbeitet hatte. Er selbst sah von dem neuen geistigen
Boden aus seine eigene Vergangenheit so an, als ob er früher schon im Besitze
der richtigen Einsicht gewesen.

Derselbe Forscher, dein, .wie in diesen Blättern scholl früher gesagt wor-


Hardenberg, eine falsche gewesen; das System der Neutralität, dein man sich
hingegeben, trage die Schuld an Preußens Unglück; aber er widerstreitet mit
aller Energie der aufgestellten Ansicht, als ob er selbst dies System gebilligt
habe; er will vielmehr zeigen, daß er innerlich dem maßgebenden Systeme
widerstrebt, daß er eine entschiedenere, prinzipiellere, kraftvollere Haltung als
Minister wiederholt angerathen und Anläufe zu einer solchen gemacht habe:
wäre man seinem Rathe mehr gefolgt, so würde man vielleicht dein Unheil,
von dem man bedroht war, zu entgehen vermocht haben. Dieser Gedanke zieht
sich durch die ganze Schrift hindurch. Es erhebt sich deßhalb die Frage: ist
diese Behauptung thatsächlich richtig? stimmen die Resultate akteumäßiger Studien
mit der Behauptung Hardenberg's von seiner Opposition gegen die herrschende
Richtung u. s. w. überein? hat wirklich Hardenberg sich in den Jahren 1805
und 1806 so verhalten, wie er bald nachher 1808 in seiner Denkschrift von
sich selbst es aussagt? Der Herausgeber hat sich diese Frage natürlich vorzu¬
legen gehabt, er hat schon eine Reihe von Fällen namhaft gemacht, in welchen
die von Hardenberg selbst seiner Schrift beigefügten Urkunden den von ihm
vorgetragenen Erinnerungen widersprechen (z. B. I, 552, 565, III. 193); er
urtheilt darüber, daß man Hardenberg deßhalb nicht eine bewußte Unwahr-
haftigkeit Schuld geben dürfe: „Hardenberg schrieb unter dem Eindrucke daß
man energischer hätte handeln sollen, und sucht den Fehler, der auch sein
eigener war, nur in Andern." Und so gestaltet sich in der That das Ergebniß
der kritischen Prüfung. Nach dem Kriege von 1806 war Hardenberg auf das
lebendigste von der Ueberzeugung durchdrungen, daß Preußens Heil nicht in
der so lange behaupteten Neutralität, sondern allein in einer entschiedeneren
Parteinahme gegen Napoleon, in einem Anschlusse an die großen Mächte Eng-
land und Rußland und wohl auch Oesterreich hätte gesucht werden müssen.
Nach 1806 wirkte und lebte Hardenberg energischer und konsequenter als alle
anderen preußischen Minister sür die Verwirklichung dieses Programmes: schon
im Frühjahr 1807 wagte er den letzten Versuch einer Rettung Preußens, indem
er mit großartiger Beharrlichkeit und Festigkeit diesen Gedanken zum Mittel¬
punkt seiner neuen leitenden Stellung erhob. Und das Unglück des Sommers
1807 befestigte in seinem Geiste immer massiver diese Ueberzeugung; sie wurde
in ihm gleichsam ein natürliches Axiom. Nun aber übertrug er, auf die jüngste
Vergangenheit zurückblickend, das neue Programm, an das seine Seele sich jetzt
anklammerte, auch in jene früheren Tage, in denen es sich noch nicht zur
Klarheit bei ihm durchgearbeitet hatte. Er selbst sah von dem neuen geistigen
Boden aus seine eigene Vergangenheit so an, als ob er früher schon im Besitze
der richtigen Einsicht gewesen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/15>, abgerufen am 22.07.2024.