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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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wird es mahl entgehen, daß an vielen Stellen und sogar bei sehr einschnei¬
denden Punkten Ranke's Erzcihluug sich in offenem Widerspruch zu Harden-
bergs eigenen Behauptungen bewegt.

Nach dieser nothwendigen Auseinandersetzung über den Inhalt des vor¬
liegenden Buches wenden wir unser Augenmerk wieder ausschließlich hin auf
die eigene Schrift Hardenbergs von 1808, deren Veranlassung und Absicht wir
vorhin schon mitgetheilt haben. Ein ganz eigenartiges, merkwürdiges, unendlich
fesselndes Produkt ist in der That diese Schrift. Einer der leitenden Staats¬
männer der Epoche, der selbst bei den welterschütternden Ereignissen eine Rolle
gespielt, der in die intimsten und geheimsten Vorgänge und Motive der Zeit¬
geschichte eingeweiht ist, -- ein solcher Mann schreibt die Geschichte der unge¬
heueren Katastrophe Preußens, ans vollster Kenntniß des Gegenstandes, in
lebhaftester Erregung des Geistes; er schreibt seine Erzühluug noch unmittelbar
unter dem Eindruck der vor Jahresfrist erlebten Katastrophe, noch vor dem
Durchbruch der neuen Erhebung, auf welche er allerdings hoffen darf, deren
Eintreten er aber nicht mit Sicherheit vorhersagen kann. Der schriftstellernde
Staatsmann ist ein Mann hoher geistiger Bedeutung, gebildet in den An¬
schauungen des Jahrhunderts der Aufklärung, erfüllt von den neuen Ideen
der Staatsphilosophen des 18. Jahrhunderts. Er schreibt gewandt, lebhaft,
geistreich; in seiner Auszeichnung spiegelt sich sein geistiges Wesen mit allen
seinen Interessen und seinen Eigenschaften wieder. Er verhüllt oder verschweigt
nichts aus Rücksichten auf andere Personen; ist er sich doch bewußt, für die
Nachwelt, nicht für seine zeitgenössische Gegenwart zu schreiben. Er selbst be¬
tont es wiederholt, daß ihm die Wahrheit der Erzählung über alles andere geht.

Gerade dieser scharf ausgeprägte Charakter aber legt dem wissenschaftlichen
Forscher, der den Gewinn solchen Quellemnateriales, wie es hier geboten ist,
mit jubelnden Danke begrüßen muß, gleichzeitig die Pflicht auf, an der
Quellenschrift aufmerksame, allseitige und strenge Kritik zu üben. Indem man
den Inhalt zergliedert, sondert sich sofort die ans Hardenbergs persönlicher
Erinnerung und persönlicher Auffassung beruhende Darstellung von den akten¬
mäßigen Bestandtheilen, die er meistentheils vollständig seinem Texte eingefügt
hat. Es zeigt sich sofort, daß Hardenberg in einer sehr bestimmt aufgetragenen
persönlichen Färbung die Vorgänge, die er erlebt, angesehen und wiedergegeben
hat: seine Subjectivität verleugnet sich nirgendwo. Nun kann ja Niemandem
von vornherein zweifelhaft sein, daß neben der subjectiven Ansicht Harden¬
bergs noch audere Auffassungen existirten und vielleicht vou anderem Stand¬
punkte aus eine ebenso gute Berechtigung ihrer Existenz besaßen. Aber, diese
Einschränkung als eine selbstverständliche zugegeben, die subjektive Ansicht Har¬
denbergs ist immerhin eine solche, die in erster Linie Beachtung verdient; sein


wird es mahl entgehen, daß an vielen Stellen und sogar bei sehr einschnei¬
denden Punkten Ranke's Erzcihluug sich in offenem Widerspruch zu Harden-
bergs eigenen Behauptungen bewegt.

Nach dieser nothwendigen Auseinandersetzung über den Inhalt des vor¬
liegenden Buches wenden wir unser Augenmerk wieder ausschließlich hin auf
die eigene Schrift Hardenbergs von 1808, deren Veranlassung und Absicht wir
vorhin schon mitgetheilt haben. Ein ganz eigenartiges, merkwürdiges, unendlich
fesselndes Produkt ist in der That diese Schrift. Einer der leitenden Staats¬
männer der Epoche, der selbst bei den welterschütternden Ereignissen eine Rolle
gespielt, der in die intimsten und geheimsten Vorgänge und Motive der Zeit¬
geschichte eingeweiht ist, — ein solcher Mann schreibt die Geschichte der unge¬
heueren Katastrophe Preußens, ans vollster Kenntniß des Gegenstandes, in
lebhaftester Erregung des Geistes; er schreibt seine Erzühluug noch unmittelbar
unter dem Eindruck der vor Jahresfrist erlebten Katastrophe, noch vor dem
Durchbruch der neuen Erhebung, auf welche er allerdings hoffen darf, deren
Eintreten er aber nicht mit Sicherheit vorhersagen kann. Der schriftstellernde
Staatsmann ist ein Mann hoher geistiger Bedeutung, gebildet in den An¬
schauungen des Jahrhunderts der Aufklärung, erfüllt von den neuen Ideen
der Staatsphilosophen des 18. Jahrhunderts. Er schreibt gewandt, lebhaft,
geistreich; in seiner Auszeichnung spiegelt sich sein geistiges Wesen mit allen
seinen Interessen und seinen Eigenschaften wieder. Er verhüllt oder verschweigt
nichts aus Rücksichten auf andere Personen; ist er sich doch bewußt, für die
Nachwelt, nicht für seine zeitgenössische Gegenwart zu schreiben. Er selbst be¬
tont es wiederholt, daß ihm die Wahrheit der Erzählung über alles andere geht.

Gerade dieser scharf ausgeprägte Charakter aber legt dem wissenschaftlichen
Forscher, der den Gewinn solchen Quellemnateriales, wie es hier geboten ist,
mit jubelnden Danke begrüßen muß, gleichzeitig die Pflicht auf, an der
Quellenschrift aufmerksame, allseitige und strenge Kritik zu üben. Indem man
den Inhalt zergliedert, sondert sich sofort die ans Hardenbergs persönlicher
Erinnerung und persönlicher Auffassung beruhende Darstellung von den akten¬
mäßigen Bestandtheilen, die er meistentheils vollständig seinem Texte eingefügt
hat. Es zeigt sich sofort, daß Hardenberg in einer sehr bestimmt aufgetragenen
persönlichen Färbung die Vorgänge, die er erlebt, angesehen und wiedergegeben
hat: seine Subjectivität verleugnet sich nirgendwo. Nun kann ja Niemandem
von vornherein zweifelhaft sein, daß neben der subjectiven Ansicht Harden¬
bergs noch audere Auffassungen existirten und vielleicht vou anderem Stand¬
punkte aus eine ebenso gute Berechtigung ihrer Existenz besaßen. Aber, diese
Einschränkung als eine selbstverständliche zugegeben, die subjektive Ansicht Har¬
denbergs ist immerhin eine solche, die in erster Linie Beachtung verdient; sein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/12>, abgerufen am 22.07.2024.