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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Schar von Anhängern ihre Lokale zu versagen. Fanden letztere ja ein neues
Heim, so wurden ihre geschlossenen Sitzungen von fremden Gestalten unter¬
brochen, die unruhige Auftritte verursachten. Der Fortschrittsphilister fand
bald Gefallen an solchem Spaß, der ihm später, als das Blatt sich wendete,
recht unbequem werden sollte. Lassalle war endlich des grausamen Spiels
müde, er griff wieder zu seineu "großen Mitteln" und berief Massenversamm¬
lungen, zu deuen jedermann Zutritt hatte, aber er besserte damit nichts. Die
Störungen dauerten fort, und am 22. November drangen sogar Polizeibeamte
in den Saal des Eldorado, wo Lassalle sprach, verhafteten ihn wegen Hoch¬
verraths, den er in seiner Ansprache begangen haben sollte, und trieben die
Versammlung auseinander. Zwar gelangte der Agitator nach einigen Tagen
gegen eine Kaution wieder auf freien Fuß, aber die persönliche Agitation in
Berlin blieb ihm für immer verleidet.

Ende November hatte sich die Zahl der Vereinsmitglieder in Berlin auf
etwa 200 gesteigert, im Februar des nächste" Jahres war sie wieder auf 35
zusammengeschmolzen. Das war ein arger Mißerfolg. Aber auch abgesehen
von dem niederschlagenden Eindrucke, den dies auf Lassalle machen mußte,
hatte der Vielgeplagtc jetzt schwere Sorgen vor sich. Der Tod des Königs
von Dänemark und seine Folgen in Schleswig-Holstein griffen zerstörend in
das Gewebe seiner Zukunftspläne ein. Lassalle begriff, daß dieser Zwischen¬
fall der nationalen Politik Bismarck's neue Bahnen eröffnet habe, und er sah
ein, daß er selbst noch keineswegs genügend zu der Rolle gerüstet sei, die er
sich bei der entscheidenden Krisis zugedacht hatte. Sodann aber kreuzte die
Bewegung in den Herzogthümern die Wirkung seiner Agitation empfindlich, da
viele Vereinsmitglieder sich von jener hinreißen ließen. An einen Bevollmäch¬
tigten, der wieder an die Bildung von Freischaren dachte, schrieb er: "Wir
können uns unmöglich für das legitime Erbrecht des Herzogs von Augusten¬
burg schlagen. Ist es national, zu den dreiunddreißig deutschen Fürsten noch
einen vierunddreißigsten zu schaffen? Ist das der Drang nach deutscher Ein¬
heit?" Die einzig vernünftige Lösung der Schleswig-holsteinischen Frage war
ihm nach diesem Briefe die Einverleibung der transalbingischeu Herzogthümer
in Preußen, aber öffentlich wagte er das nicht auszusprechen. In seiner Ver¬
legenheit griff er endlich zu dein Mittel, das er an der Fortschrittspartei wie¬
derholt mit vollem Rechte verspottet hatte: er ließ seinen Verein eine nichts¬
sagende und für den Gang der Dinge natürlich ganz und gar bedeutungslose
Resolution fassen, welche die Trennung Schleswig-Holsteins von Dänemark
und die "Einverleibung dieser Provinzen in -- Deutschland" verlangte, aber
vor der Bildung von Freischaren warnte.




Schar von Anhängern ihre Lokale zu versagen. Fanden letztere ja ein neues
Heim, so wurden ihre geschlossenen Sitzungen von fremden Gestalten unter¬
brochen, die unruhige Auftritte verursachten. Der Fortschrittsphilister fand
bald Gefallen an solchem Spaß, der ihm später, als das Blatt sich wendete,
recht unbequem werden sollte. Lassalle war endlich des grausamen Spiels
müde, er griff wieder zu seineu „großen Mitteln" und berief Massenversamm¬
lungen, zu deuen jedermann Zutritt hatte, aber er besserte damit nichts. Die
Störungen dauerten fort, und am 22. November drangen sogar Polizeibeamte
in den Saal des Eldorado, wo Lassalle sprach, verhafteten ihn wegen Hoch¬
verraths, den er in seiner Ansprache begangen haben sollte, und trieben die
Versammlung auseinander. Zwar gelangte der Agitator nach einigen Tagen
gegen eine Kaution wieder auf freien Fuß, aber die persönliche Agitation in
Berlin blieb ihm für immer verleidet.

Ende November hatte sich die Zahl der Vereinsmitglieder in Berlin auf
etwa 200 gesteigert, im Februar des nächste« Jahres war sie wieder auf 35
zusammengeschmolzen. Das war ein arger Mißerfolg. Aber auch abgesehen
von dem niederschlagenden Eindrucke, den dies auf Lassalle machen mußte,
hatte der Vielgeplagtc jetzt schwere Sorgen vor sich. Der Tod des Königs
von Dänemark und seine Folgen in Schleswig-Holstein griffen zerstörend in
das Gewebe seiner Zukunftspläne ein. Lassalle begriff, daß dieser Zwischen¬
fall der nationalen Politik Bismarck's neue Bahnen eröffnet habe, und er sah
ein, daß er selbst noch keineswegs genügend zu der Rolle gerüstet sei, die er
sich bei der entscheidenden Krisis zugedacht hatte. Sodann aber kreuzte die
Bewegung in den Herzogthümern die Wirkung seiner Agitation empfindlich, da
viele Vereinsmitglieder sich von jener hinreißen ließen. An einen Bevollmäch¬
tigten, der wieder an die Bildung von Freischaren dachte, schrieb er: „Wir
können uns unmöglich für das legitime Erbrecht des Herzogs von Augusten¬
burg schlagen. Ist es national, zu den dreiunddreißig deutschen Fürsten noch
einen vierunddreißigsten zu schaffen? Ist das der Drang nach deutscher Ein¬
heit?" Die einzig vernünftige Lösung der Schleswig-holsteinischen Frage war
ihm nach diesem Briefe die Einverleibung der transalbingischeu Herzogthümer
in Preußen, aber öffentlich wagte er das nicht auszusprechen. In seiner Ver¬
legenheit griff er endlich zu dein Mittel, das er an der Fortschrittspartei wie¬
derholt mit vollem Rechte verspottet hatte: er ließ seinen Verein eine nichts¬
sagende und für den Gang der Dinge natürlich ganz und gar bedeutungslose
Resolution fassen, welche die Trennung Schleswig-Holsteins von Dänemark
und die „Einverleibung dieser Provinzen in — Deutschland" verlangte, aber
vor der Bildung von Freischaren warnte.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/462>, abgerufen am 03.07.2024.