Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

walt der außer dem Menschen wirkenden Mächte, deren schädliche Eigenschaften
von allen zuerst gefühlt wurden. Erst später lernte die reifer werdende Mensche
heit die Schönheit und Erhabenheit des Uebermenschlichem beachten und be¬
wundern, und erst in noch reiferer Zeit verband sich damit die Empfindung
der Milde, Güte und Gerechtigkeit jener Mächte und das Gefühl der Liebe zu
ihnen. Das Alte aber blieb neben dem neugewonnenen und erhielt sich auch,
als die Naturreligion mit der Bildung von seßhaften Gemeinden, Städten und
Staaten mehr und mehr ethische Elemente in sich aufnahm, neben dem ge¬
läuterten Glauben in dein Maße fort, wie das Heidenthum in nnserm heutigen
Aberglauben neben dem Kreise der christlichen Vorstellungen und der ganzen
modernen Bildung fortlebt.

Wir begegnen jener urzeitlichen Auffassung der Gottheit als einer Gewalt,
die vor Allem zu fürchten ist, unter den Hellenen in den Zeiten, wo die gigan¬
tischen und titanischen Urgötter der schönen Familie der Olympier gewichen
und zum finstern Hintergrunde der lichten Gegenwart geworden find, in zwei
verwandten Vorstellungen, einer roheren und einer feineren, neben der neuen
Gestalt der Religion. Die rohere begründet die Furcht mit einer Eigen¬
schaft der Götter, die andere mit einem Hange der Menschen. Jene meint,
daß die Götter neidisch sind, diese, daß man sie durch Ueberhebung beleidigt
und erzürnt. Jene personifizirt die alte Furcht vor bösen Naturgewalten und
versetzt sie unter dem Namen der Mißgunst, Aso^o?, Inviäig,, unter die Himm¬
lischen, diese stellt hinter deren Stühle die Nemesis, die Rächerin alles
Uebermuthes. Nach der roheren Vorstellung können die Götter über¬
haupt kein hohes Glück unter den Menschen sehen, blind wie der
Blitz werfen sie die Bäume nieder, die über andere hervorragen; nach der
feineren muß zu dein äußeren Glück ein ethisches Moment hinzutreten, wenn
der Blitz herabzucken soll, der Baum muß in den Himmel wachsen wollen.
Die Götter der älteren Vorstellung verderben ans Eifersucht einen natür¬
lichen Prozeß, die Götter der jüngeren und edleren Auffassung des Verhält¬
nisses zwischen ihnen und den Menschen strafen deu Geist, der zu viel
Selbstgefühl hat, dein es maßlos wohl zu Muthe ist, der da meint, es könne
ihm nicht fehlen, der das Gesetz, welches ihm bestimmte Schranken anweist,
nicht anerkennen mag.

Wie solche Vorstellungen sich erhalten konnten, ist nicht schwer zu erklären.
Sie wurden genährt durch das namentlich in bewegten Zeiten lebhafte Gefühl/
daß jeder Besitz unsicher sei und daß vorzüglich ungewöhnliches Gedeihen oft
einen raschen Umschwung erfahre, ferner durch den Glauben an die giftige
Wirkung neiderfüllter Menschenaugen, endlich durch Beobachtungen, wie sie sich
in den griechischen Sprichwörtern "Sättigung erzeugt Ueberhebung" lind "Hoch-


walt der außer dem Menschen wirkenden Mächte, deren schädliche Eigenschaften
von allen zuerst gefühlt wurden. Erst später lernte die reifer werdende Mensche
heit die Schönheit und Erhabenheit des Uebermenschlichem beachten und be¬
wundern, und erst in noch reiferer Zeit verband sich damit die Empfindung
der Milde, Güte und Gerechtigkeit jener Mächte und das Gefühl der Liebe zu
ihnen. Das Alte aber blieb neben dem neugewonnenen und erhielt sich auch,
als die Naturreligion mit der Bildung von seßhaften Gemeinden, Städten und
Staaten mehr und mehr ethische Elemente in sich aufnahm, neben dem ge¬
läuterten Glauben in dein Maße fort, wie das Heidenthum in nnserm heutigen
Aberglauben neben dem Kreise der christlichen Vorstellungen und der ganzen
modernen Bildung fortlebt.

Wir begegnen jener urzeitlichen Auffassung der Gottheit als einer Gewalt,
die vor Allem zu fürchten ist, unter den Hellenen in den Zeiten, wo die gigan¬
tischen und titanischen Urgötter der schönen Familie der Olympier gewichen
und zum finstern Hintergrunde der lichten Gegenwart geworden find, in zwei
verwandten Vorstellungen, einer roheren und einer feineren, neben der neuen
Gestalt der Religion. Die rohere begründet die Furcht mit einer Eigen¬
schaft der Götter, die andere mit einem Hange der Menschen. Jene meint,
daß die Götter neidisch sind, diese, daß man sie durch Ueberhebung beleidigt
und erzürnt. Jene personifizirt die alte Furcht vor bösen Naturgewalten und
versetzt sie unter dem Namen der Mißgunst, Aso^o?, Inviäig,, unter die Himm¬
lischen, diese stellt hinter deren Stühle die Nemesis, die Rächerin alles
Uebermuthes. Nach der roheren Vorstellung können die Götter über¬
haupt kein hohes Glück unter den Menschen sehen, blind wie der
Blitz werfen sie die Bäume nieder, die über andere hervorragen; nach der
feineren muß zu dein äußeren Glück ein ethisches Moment hinzutreten, wenn
der Blitz herabzucken soll, der Baum muß in den Himmel wachsen wollen.
Die Götter der älteren Vorstellung verderben ans Eifersucht einen natür¬
lichen Prozeß, die Götter der jüngeren und edleren Auffassung des Verhält¬
nisses zwischen ihnen und den Menschen strafen deu Geist, der zu viel
Selbstgefühl hat, dein es maßlos wohl zu Muthe ist, der da meint, es könne
ihm nicht fehlen, der das Gesetz, welches ihm bestimmte Schranken anweist,
nicht anerkennen mag.

Wie solche Vorstellungen sich erhalten konnten, ist nicht schwer zu erklären.
Sie wurden genährt durch das namentlich in bewegten Zeiten lebhafte Gefühl/
daß jeder Besitz unsicher sei und daß vorzüglich ungewöhnliches Gedeihen oft
einen raschen Umschwung erfahre, ferner durch den Glauben an die giftige
Wirkung neiderfüllter Menschenaugen, endlich durch Beobachtungen, wie sie sich
in den griechischen Sprichwörtern „Sättigung erzeugt Ueberhebung" lind „Hoch-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0046" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137747"/>
          <p xml:id="ID_90" prev="#ID_89"> walt der außer dem Menschen wirkenden Mächte, deren schädliche Eigenschaften<lb/>
von allen zuerst gefühlt wurden. Erst später lernte die reifer werdende Mensche<lb/>
heit die Schönheit und Erhabenheit des Uebermenschlichem beachten und be¬<lb/>
wundern, und erst in noch reiferer Zeit verband sich damit die Empfindung<lb/>
der Milde, Güte und Gerechtigkeit jener Mächte und das Gefühl der Liebe zu<lb/>
ihnen. Das Alte aber blieb neben dem neugewonnenen und erhielt sich auch,<lb/>
als die Naturreligion mit der Bildung von seßhaften Gemeinden, Städten und<lb/>
Staaten mehr und mehr ethische Elemente in sich aufnahm, neben dem ge¬<lb/>
läuterten Glauben in dein Maße fort, wie das Heidenthum in nnserm heutigen<lb/>
Aberglauben neben dem Kreise der christlichen Vorstellungen und der ganzen<lb/>
modernen Bildung fortlebt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_91"> Wir begegnen jener urzeitlichen Auffassung der Gottheit als einer Gewalt,<lb/>
die vor Allem zu fürchten ist, unter den Hellenen in den Zeiten, wo die gigan¬<lb/>
tischen und titanischen Urgötter der schönen Familie der Olympier gewichen<lb/>
und zum finstern Hintergrunde der lichten Gegenwart geworden find, in zwei<lb/>
verwandten Vorstellungen, einer roheren und einer feineren, neben der neuen<lb/>
Gestalt der Religion. Die rohere begründet die Furcht mit einer Eigen¬<lb/>
schaft der Götter, die andere mit einem Hange der Menschen. Jene meint,<lb/>
daß die Götter neidisch sind, diese, daß man sie durch Ueberhebung beleidigt<lb/>
und erzürnt. Jene personifizirt die alte Furcht vor bösen Naturgewalten und<lb/>
versetzt sie unter dem Namen der Mißgunst, Aso^o?, Inviäig,, unter die Himm¬<lb/>
lischen, diese stellt hinter deren Stühle die Nemesis, die Rächerin alles<lb/>
Uebermuthes. Nach der roheren Vorstellung können die Götter über¬<lb/>
haupt kein hohes Glück unter den Menschen sehen, blind wie der<lb/>
Blitz werfen sie die Bäume nieder, die über andere hervorragen; nach der<lb/>
feineren muß zu dein äußeren Glück ein ethisches Moment hinzutreten, wenn<lb/>
der Blitz herabzucken soll, der Baum muß in den Himmel wachsen wollen.<lb/>
Die Götter der älteren Vorstellung verderben ans Eifersucht einen natür¬<lb/>
lichen Prozeß, die Götter der jüngeren und edleren Auffassung des Verhält¬<lb/>
nisses zwischen ihnen und den Menschen strafen deu Geist, der zu viel<lb/>
Selbstgefühl hat, dein es maßlos wohl zu Muthe ist, der da meint, es könne<lb/>
ihm nicht fehlen, der das Gesetz, welches ihm bestimmte Schranken anweist,<lb/>
nicht anerkennen mag.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_92" next="#ID_93"> Wie solche Vorstellungen sich erhalten konnten, ist nicht schwer zu erklären.<lb/>
Sie wurden genährt durch das namentlich in bewegten Zeiten lebhafte Gefühl/<lb/>
daß jeder Besitz unsicher sei und daß vorzüglich ungewöhnliches Gedeihen oft<lb/>
einen raschen Umschwung erfahre, ferner durch den Glauben an die giftige<lb/>
Wirkung neiderfüllter Menschenaugen, endlich durch Beobachtungen, wie sie sich<lb/>
in den griechischen Sprichwörtern &#x201E;Sättigung erzeugt Ueberhebung" lind &#x201E;Hoch-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0046] walt der außer dem Menschen wirkenden Mächte, deren schädliche Eigenschaften von allen zuerst gefühlt wurden. Erst später lernte die reifer werdende Mensche heit die Schönheit und Erhabenheit des Uebermenschlichem beachten und be¬ wundern, und erst in noch reiferer Zeit verband sich damit die Empfindung der Milde, Güte und Gerechtigkeit jener Mächte und das Gefühl der Liebe zu ihnen. Das Alte aber blieb neben dem neugewonnenen und erhielt sich auch, als die Naturreligion mit der Bildung von seßhaften Gemeinden, Städten und Staaten mehr und mehr ethische Elemente in sich aufnahm, neben dem ge¬ läuterten Glauben in dein Maße fort, wie das Heidenthum in nnserm heutigen Aberglauben neben dem Kreise der christlichen Vorstellungen und der ganzen modernen Bildung fortlebt. Wir begegnen jener urzeitlichen Auffassung der Gottheit als einer Gewalt, die vor Allem zu fürchten ist, unter den Hellenen in den Zeiten, wo die gigan¬ tischen und titanischen Urgötter der schönen Familie der Olympier gewichen und zum finstern Hintergrunde der lichten Gegenwart geworden find, in zwei verwandten Vorstellungen, einer roheren und einer feineren, neben der neuen Gestalt der Religion. Die rohere begründet die Furcht mit einer Eigen¬ schaft der Götter, die andere mit einem Hange der Menschen. Jene meint, daß die Götter neidisch sind, diese, daß man sie durch Ueberhebung beleidigt und erzürnt. Jene personifizirt die alte Furcht vor bösen Naturgewalten und versetzt sie unter dem Namen der Mißgunst, Aso^o?, Inviäig,, unter die Himm¬ lischen, diese stellt hinter deren Stühle die Nemesis, die Rächerin alles Uebermuthes. Nach der roheren Vorstellung können die Götter über¬ haupt kein hohes Glück unter den Menschen sehen, blind wie der Blitz werfen sie die Bäume nieder, die über andere hervorragen; nach der feineren muß zu dein äußeren Glück ein ethisches Moment hinzutreten, wenn der Blitz herabzucken soll, der Baum muß in den Himmel wachsen wollen. Die Götter der älteren Vorstellung verderben ans Eifersucht einen natür¬ lichen Prozeß, die Götter der jüngeren und edleren Auffassung des Verhält¬ nisses zwischen ihnen und den Menschen strafen deu Geist, der zu viel Selbstgefühl hat, dein es maßlos wohl zu Muthe ist, der da meint, es könne ihm nicht fehlen, der das Gesetz, welches ihm bestimmte Schranken anweist, nicht anerkennen mag. Wie solche Vorstellungen sich erhalten konnten, ist nicht schwer zu erklären. Sie wurden genährt durch das namentlich in bewegten Zeiten lebhafte Gefühl/ daß jeder Besitz unsicher sei und daß vorzüglich ungewöhnliches Gedeihen oft einen raschen Umschwung erfahre, ferner durch den Glauben an die giftige Wirkung neiderfüllter Menschenaugen, endlich durch Beobachtungen, wie sie sich in den griechischen Sprichwörtern „Sättigung erzeugt Ueberhebung" lind „Hoch-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/46
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/46>, abgerufen am 22.07.2024.