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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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an der Ausbreitung des Vereins, aber fast ohne allen Erfolg. Derselbe zählte
im August, also drei Monate nach seiner Gründung, nicht mehr als etwa
tausend Mitglieder, von denen auf Berlin zwanzig kamen. Die großen Zahlen
Lassalle's hatten sich als ebenso große Irrlichter erwiesen. Seine allmähliche
Enttäuschung spiegelt sich charakteristisch in seinen Briefen an Vahlteich. Am
25. Juli schreibt er: "Wenn die Arbeiter so sind, wie Sie sie schildern, so
werden wir uns trotz aller meiner Anstrengungen blamiren. Das steht fest."
Und am 29. August: "Nicht wahr, lieber Vahlteich, diese Apathie der Massen
ist zum Verzweifeln? Solche Apathie bei einer Bewegung, die rein für sie,
rein in ihrem Interesse stattfindet, und bei den in geistiger Beziehung immensen
Agitationsmitteln, die schon aufgewendet worden siud! Wann wird dieses
stumpfe Volk endlich seine Lethargie abschütteln?" Indeß warf Lassalle die
Flinte noch nicht ins Korn. Er sann auf neue Mittel, den Verein zu heben.
Auf heimischen Boden zurückgekehrt, wollte er zunächst mit einer "Heerschau"
über die rheinischen Arbeiter debutiren, unter denen er seine intelligentesten und
anhänglichsten Jünger hatte.

Diese "Heerschau" fand in den letzten Tagen des September im Jahre
1863 statt. Er wollte die Elitetruppen seiner kleinen Armee mustern und
neue Rekruten werben. Die Rede, die er sich zu diesem Zwecke schmiedete,
wurde später unter dem Titel: "Die Feste, die Presse und der frankfurter
Abgeordnetentag. Drei Symptome des öffentlichen Geistes" gedruckt vom
Stapel gelassen. In ihr gipfelt die agitatorische Kraft Lassalle's, und sie ent¬
hält ganz unzweifelhafte Wahrheiten. Aber mitten durch das volle Pathos
des Agitators klingt doch schon die demagogische Phrase hindurch. Lassalle
fing an, kein Kampfmittel zu verschmähen. Vor wenigen Monaten noch hatte
er auf Vahlteich's Vorschlag, die Zahl der Vereinsmitglieder in den offiziellen
Mittheilungen auf zehntausend anzugeben, mit vornehmer Kürze geantwortet:
"Lügen schickt sich für uns nicht." Jetzt sprach er nicht selten Dinge ans, die
nicht mit der Wahrheit stimmten.

Mit dem Charakter des Agitators veränderte sich der Charakter der Agi¬
tation: die Massenbewegung wurde aus einem Zwecke zu einem Mittel.
Nicht mehr sollte sie durch die eigne Schwerkraft die bestehende Ordnung in
Staat und Gesellschaft umgestalten, vielmehr sucht Lassalle seine Lieblingsphrase
von dem Hammer, den der Wille der Masse in der Hand des denkenden
Führers bilde, zur Wahrheit zu machen: an der Spitze von Hunderttausenden
will er als ebenbürtiger Faktor mit den herrschenden Gewalten verhandeln.
Es beginnt jetzt das, was häufiger von den Anhängern als von den Gegnern
Lassalle's ganz unrichtig und ungeschickt sein Bündniß oder doch sein Kokettiren
mit der Reaktion und der Regierung genannt worden ist. In der Heerschau-


an der Ausbreitung des Vereins, aber fast ohne allen Erfolg. Derselbe zählte
im August, also drei Monate nach seiner Gründung, nicht mehr als etwa
tausend Mitglieder, von denen auf Berlin zwanzig kamen. Die großen Zahlen
Lassalle's hatten sich als ebenso große Irrlichter erwiesen. Seine allmähliche
Enttäuschung spiegelt sich charakteristisch in seinen Briefen an Vahlteich. Am
25. Juli schreibt er: „Wenn die Arbeiter so sind, wie Sie sie schildern, so
werden wir uns trotz aller meiner Anstrengungen blamiren. Das steht fest."
Und am 29. August: „Nicht wahr, lieber Vahlteich, diese Apathie der Massen
ist zum Verzweifeln? Solche Apathie bei einer Bewegung, die rein für sie,
rein in ihrem Interesse stattfindet, und bei den in geistiger Beziehung immensen
Agitationsmitteln, die schon aufgewendet worden siud! Wann wird dieses
stumpfe Volk endlich seine Lethargie abschütteln?" Indeß warf Lassalle die
Flinte noch nicht ins Korn. Er sann auf neue Mittel, den Verein zu heben.
Auf heimischen Boden zurückgekehrt, wollte er zunächst mit einer „Heerschau"
über die rheinischen Arbeiter debutiren, unter denen er seine intelligentesten und
anhänglichsten Jünger hatte.

Diese „Heerschau" fand in den letzten Tagen des September im Jahre
1863 statt. Er wollte die Elitetruppen seiner kleinen Armee mustern und
neue Rekruten werben. Die Rede, die er sich zu diesem Zwecke schmiedete,
wurde später unter dem Titel: „Die Feste, die Presse und der frankfurter
Abgeordnetentag. Drei Symptome des öffentlichen Geistes" gedruckt vom
Stapel gelassen. In ihr gipfelt die agitatorische Kraft Lassalle's, und sie ent¬
hält ganz unzweifelhafte Wahrheiten. Aber mitten durch das volle Pathos
des Agitators klingt doch schon die demagogische Phrase hindurch. Lassalle
fing an, kein Kampfmittel zu verschmähen. Vor wenigen Monaten noch hatte
er auf Vahlteich's Vorschlag, die Zahl der Vereinsmitglieder in den offiziellen
Mittheilungen auf zehntausend anzugeben, mit vornehmer Kürze geantwortet:
„Lügen schickt sich für uns nicht." Jetzt sprach er nicht selten Dinge ans, die
nicht mit der Wahrheit stimmten.

Mit dem Charakter des Agitators veränderte sich der Charakter der Agi¬
tation: die Massenbewegung wurde aus einem Zwecke zu einem Mittel.
Nicht mehr sollte sie durch die eigne Schwerkraft die bestehende Ordnung in
Staat und Gesellschaft umgestalten, vielmehr sucht Lassalle seine Lieblingsphrase
von dem Hammer, den der Wille der Masse in der Hand des denkenden
Führers bilde, zur Wahrheit zu machen: an der Spitze von Hunderttausenden
will er als ebenbürtiger Faktor mit den herrschenden Gewalten verhandeln.
Es beginnt jetzt das, was häufiger von den Anhängern als von den Gegnern
Lassalle's ganz unrichtig und ungeschickt sein Bündniß oder doch sein Kokettiren
mit der Reaktion und der Regierung genannt worden ist. In der Heerschau-


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[0458] an der Ausbreitung des Vereins, aber fast ohne allen Erfolg. Derselbe zählte im August, also drei Monate nach seiner Gründung, nicht mehr als etwa tausend Mitglieder, von denen auf Berlin zwanzig kamen. Die großen Zahlen Lassalle's hatten sich als ebenso große Irrlichter erwiesen. Seine allmähliche Enttäuschung spiegelt sich charakteristisch in seinen Briefen an Vahlteich. Am 25. Juli schreibt er: „Wenn die Arbeiter so sind, wie Sie sie schildern, so werden wir uns trotz aller meiner Anstrengungen blamiren. Das steht fest." Und am 29. August: „Nicht wahr, lieber Vahlteich, diese Apathie der Massen ist zum Verzweifeln? Solche Apathie bei einer Bewegung, die rein für sie, rein in ihrem Interesse stattfindet, und bei den in geistiger Beziehung immensen Agitationsmitteln, die schon aufgewendet worden siud! Wann wird dieses stumpfe Volk endlich seine Lethargie abschütteln?" Indeß warf Lassalle die Flinte noch nicht ins Korn. Er sann auf neue Mittel, den Verein zu heben. Auf heimischen Boden zurückgekehrt, wollte er zunächst mit einer „Heerschau" über die rheinischen Arbeiter debutiren, unter denen er seine intelligentesten und anhänglichsten Jünger hatte. Diese „Heerschau" fand in den letzten Tagen des September im Jahre 1863 statt. Er wollte die Elitetruppen seiner kleinen Armee mustern und neue Rekruten werben. Die Rede, die er sich zu diesem Zwecke schmiedete, wurde später unter dem Titel: „Die Feste, die Presse und der frankfurter Abgeordnetentag. Drei Symptome des öffentlichen Geistes" gedruckt vom Stapel gelassen. In ihr gipfelt die agitatorische Kraft Lassalle's, und sie ent¬ hält ganz unzweifelhafte Wahrheiten. Aber mitten durch das volle Pathos des Agitators klingt doch schon die demagogische Phrase hindurch. Lassalle fing an, kein Kampfmittel zu verschmähen. Vor wenigen Monaten noch hatte er auf Vahlteich's Vorschlag, die Zahl der Vereinsmitglieder in den offiziellen Mittheilungen auf zehntausend anzugeben, mit vornehmer Kürze geantwortet: „Lügen schickt sich für uns nicht." Jetzt sprach er nicht selten Dinge ans, die nicht mit der Wahrheit stimmten. Mit dem Charakter des Agitators veränderte sich der Charakter der Agi¬ tation: die Massenbewegung wurde aus einem Zwecke zu einem Mittel. Nicht mehr sollte sie durch die eigne Schwerkraft die bestehende Ordnung in Staat und Gesellschaft umgestalten, vielmehr sucht Lassalle seine Lieblingsphrase von dem Hammer, den der Wille der Masse in der Hand des denkenden Führers bilde, zur Wahrheit zu machen: an der Spitze von Hunderttausenden will er als ebenbürtiger Faktor mit den herrschenden Gewalten verhandeln. Es beginnt jetzt das, was häufiger von den Anhängern als von den Gegnern Lassalle's ganz unrichtig und ungeschickt sein Bündniß oder doch sein Kokettiren mit der Reaktion und der Regierung genannt worden ist. In der Heerschau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/458>, abgerufen am 23.07.2024.