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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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dagegen ist sie von früh bis Nachmittags drei Uhr verhüllt und trauert. An
jedem Sonntage muß sie wenigstens eine kurze Zeit scheinen, damit die Mutter
Gottes ihre Windeln trocknen kann. Wenn man in Schwaben drei Sonnen
zu gleicher Zeit am Himmel sieht, so gibt es Krieg, und das Land, über
welchem die größte steht, gewinnt dabei. In Herbrechtingen hat man solche
Nebensonnen oft gesehen, z. B. kurz vor dem Feldzuge Napoleon's gegen Ru߬
land. Die größte Sonne stand damals nach Norden zu, weßhalb der Russe
auch gesiegt hat. Hinter Buhnen, sagt man in Ditmarschen, ist die Welt mit
Bretern zugenagelt. Da sitzt am äußersten Ende ein großer Riese, der hat die
Sonne an einem Tau und windet sie jeden Morgen in die Höhe und wieder
herunter. Mehr ein Scherz und eine Neckerei ist es, wenn Andere behaupten,
die Büsumer säßen in ihrem Kirchthurme und hätten die Sonne dort an einem
Taue, mit dem sie dieselbe alle Morgen aufziehen müßte". Bei Sonnenfinster¬
nissen fällt giftiger Thau vom Himmel, weßhalb mau die Brunnen zudecken
und kein Kraut und keine Frucht, die während der Finsterniß im Freien war,
eher genießen soll, als sie durch Regen gereinigt sind.

Vor allen andern Himmelskörpern aber hat der Mond die Aufmerksamkeit
des Volkes auf sich gelenkt, und überaus groß ist infolge dessen die Menge
der Vorstellungen, Sagen und Bräuche, die sich an diesen Begleiter der Erde
knüpfen. Daß er dabei sehr verschiede" aufgefaßt wird, darf nicht Wunder
nehmen. Bald klingt in den Sagen die Urzeit nach, der er ein belebtes Wesen
war, bald ist er ein bloßer Ort am Himmel, wohin Uebelthäter verbannt
sind. Aehnlichen Auffassungen begegnen wir in den Gebräuchen, die sich auf
seinen vermeintlichen Einfluß auf Temperament und Gesundheit der Menschen,
auf das Gedeihen der Feldfrüchte und andere Vorgänge und Zustände des
Lebens beziehen, doch spielen hier orientalische Vorstellungen, dnrch Römer,
Kreuzfahrer und mittelalterliche Juden vermittelt, in den germanischen Ideen-
kreis herein. In diesem läßt die älteste Gestalt der Mythe vom Monde Odin
als Weltorduer die Riesentochter Nacht und deren Sohn Tag zu sich berufen
und ihn jedem von Beiden ein Roß und eiuen Wagen geben, damit sie in je
vierundzwanzig Stunden einmal um die Erde fahren. Nacht hat den Vortritt,
ihr Roß, der Mond, heißt Reifmähne, das knirscht in sein Gebiß und wirft
den Schaum über die Erde, wovon Thau und Reif kommen. Ihr folgt Tag,
dessen Roß heißt Scheinmähne, es hat leuchtende Haare, die Sonnenstrahlen,
von denen Luft und Erde ganz erhellt werden. Später, als die reine Natur¬
religion sich mit ethischen Momenten erfüllte, nahm diese Mythe eine andere
Form an. Es war ein Mann, heißt es hier, mit Namen Mundelför (Schciben-
schwinger), der hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und da sie
so hold waren und so schön leuchteten, nannte er den Sohn Mond und die


dagegen ist sie von früh bis Nachmittags drei Uhr verhüllt und trauert. An
jedem Sonntage muß sie wenigstens eine kurze Zeit scheinen, damit die Mutter
Gottes ihre Windeln trocknen kann. Wenn man in Schwaben drei Sonnen
zu gleicher Zeit am Himmel sieht, so gibt es Krieg, und das Land, über
welchem die größte steht, gewinnt dabei. In Herbrechtingen hat man solche
Nebensonnen oft gesehen, z. B. kurz vor dem Feldzuge Napoleon's gegen Ru߬
land. Die größte Sonne stand damals nach Norden zu, weßhalb der Russe
auch gesiegt hat. Hinter Buhnen, sagt man in Ditmarschen, ist die Welt mit
Bretern zugenagelt. Da sitzt am äußersten Ende ein großer Riese, der hat die
Sonne an einem Tau und windet sie jeden Morgen in die Höhe und wieder
herunter. Mehr ein Scherz und eine Neckerei ist es, wenn Andere behaupten,
die Büsumer säßen in ihrem Kirchthurme und hätten die Sonne dort an einem
Taue, mit dem sie dieselbe alle Morgen aufziehen müßte». Bei Sonnenfinster¬
nissen fällt giftiger Thau vom Himmel, weßhalb mau die Brunnen zudecken
und kein Kraut und keine Frucht, die während der Finsterniß im Freien war,
eher genießen soll, als sie durch Regen gereinigt sind.

Vor allen andern Himmelskörpern aber hat der Mond die Aufmerksamkeit
des Volkes auf sich gelenkt, und überaus groß ist infolge dessen die Menge
der Vorstellungen, Sagen und Bräuche, die sich an diesen Begleiter der Erde
knüpfen. Daß er dabei sehr verschiede» aufgefaßt wird, darf nicht Wunder
nehmen. Bald klingt in den Sagen die Urzeit nach, der er ein belebtes Wesen
war, bald ist er ein bloßer Ort am Himmel, wohin Uebelthäter verbannt
sind. Aehnlichen Auffassungen begegnen wir in den Gebräuchen, die sich auf
seinen vermeintlichen Einfluß auf Temperament und Gesundheit der Menschen,
auf das Gedeihen der Feldfrüchte und andere Vorgänge und Zustände des
Lebens beziehen, doch spielen hier orientalische Vorstellungen, dnrch Römer,
Kreuzfahrer und mittelalterliche Juden vermittelt, in den germanischen Ideen-
kreis herein. In diesem läßt die älteste Gestalt der Mythe vom Monde Odin
als Weltorduer die Riesentochter Nacht und deren Sohn Tag zu sich berufen
und ihn jedem von Beiden ein Roß und eiuen Wagen geben, damit sie in je
vierundzwanzig Stunden einmal um die Erde fahren. Nacht hat den Vortritt,
ihr Roß, der Mond, heißt Reifmähne, das knirscht in sein Gebiß und wirft
den Schaum über die Erde, wovon Thau und Reif kommen. Ihr folgt Tag,
dessen Roß heißt Scheinmähne, es hat leuchtende Haare, die Sonnenstrahlen,
von denen Luft und Erde ganz erhellt werden. Später, als die reine Natur¬
religion sich mit ethischen Momenten erfüllte, nahm diese Mythe eine andere
Form an. Es war ein Mann, heißt es hier, mit Namen Mundelför (Schciben-
schwinger), der hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und da sie
so hold waren und so schön leuchteten, nannte er den Sohn Mond und die


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[0367] dagegen ist sie von früh bis Nachmittags drei Uhr verhüllt und trauert. An jedem Sonntage muß sie wenigstens eine kurze Zeit scheinen, damit die Mutter Gottes ihre Windeln trocknen kann. Wenn man in Schwaben drei Sonnen zu gleicher Zeit am Himmel sieht, so gibt es Krieg, und das Land, über welchem die größte steht, gewinnt dabei. In Herbrechtingen hat man solche Nebensonnen oft gesehen, z. B. kurz vor dem Feldzuge Napoleon's gegen Ru߬ land. Die größte Sonne stand damals nach Norden zu, weßhalb der Russe auch gesiegt hat. Hinter Buhnen, sagt man in Ditmarschen, ist die Welt mit Bretern zugenagelt. Da sitzt am äußersten Ende ein großer Riese, der hat die Sonne an einem Tau und windet sie jeden Morgen in die Höhe und wieder herunter. Mehr ein Scherz und eine Neckerei ist es, wenn Andere behaupten, die Büsumer säßen in ihrem Kirchthurme und hätten die Sonne dort an einem Taue, mit dem sie dieselbe alle Morgen aufziehen müßte». Bei Sonnenfinster¬ nissen fällt giftiger Thau vom Himmel, weßhalb mau die Brunnen zudecken und kein Kraut und keine Frucht, die während der Finsterniß im Freien war, eher genießen soll, als sie durch Regen gereinigt sind. Vor allen andern Himmelskörpern aber hat der Mond die Aufmerksamkeit des Volkes auf sich gelenkt, und überaus groß ist infolge dessen die Menge der Vorstellungen, Sagen und Bräuche, die sich an diesen Begleiter der Erde knüpfen. Daß er dabei sehr verschiede» aufgefaßt wird, darf nicht Wunder nehmen. Bald klingt in den Sagen die Urzeit nach, der er ein belebtes Wesen war, bald ist er ein bloßer Ort am Himmel, wohin Uebelthäter verbannt sind. Aehnlichen Auffassungen begegnen wir in den Gebräuchen, die sich auf seinen vermeintlichen Einfluß auf Temperament und Gesundheit der Menschen, auf das Gedeihen der Feldfrüchte und andere Vorgänge und Zustände des Lebens beziehen, doch spielen hier orientalische Vorstellungen, dnrch Römer, Kreuzfahrer und mittelalterliche Juden vermittelt, in den germanischen Ideen- kreis herein. In diesem läßt die älteste Gestalt der Mythe vom Monde Odin als Weltorduer die Riesentochter Nacht und deren Sohn Tag zu sich berufen und ihn jedem von Beiden ein Roß und eiuen Wagen geben, damit sie in je vierundzwanzig Stunden einmal um die Erde fahren. Nacht hat den Vortritt, ihr Roß, der Mond, heißt Reifmähne, das knirscht in sein Gebiß und wirft den Schaum über die Erde, wovon Thau und Reif kommen. Ihr folgt Tag, dessen Roß heißt Scheinmähne, es hat leuchtende Haare, die Sonnenstrahlen, von denen Luft und Erde ganz erhellt werden. Später, als die reine Natur¬ religion sich mit ethischen Momenten erfüllte, nahm diese Mythe eine andere Form an. Es war ein Mann, heißt es hier, mit Namen Mundelför (Schciben- schwinger), der hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und da sie so hold waren und so schön leuchteten, nannte er den Sohn Mond und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/367>, abgerufen am 26.06.2024.