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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Wenn die Deutschen, die Engländer, die Franzosen und die Italiener, wie hier
gezeigt wird, vielfach dieselben oder nahezu dieselben Sprichwörter haben, so
ist der Grund zunächst in einem allen gemeinsamen innern Kern des Seelen-
uud Gemüthslebens derselben zu suchen, an dessen Ausgestaltung jedes Volk
nach seiner geistigen Individualität theilgenommen hat. Andrerseits aber lassen
sich ganz bestimmte Materialien nachweisen, die der Volksverstand nicht er¬
funden hat, und die nicht von einzelnen der Vergessenheit anheimgefallneu
Produzenten herrühren und sich ebensowenig von bloß lokalen Vorgängen her¬
schreiben. Wo kommen sie aber in Wahrheit her? Die Antwort lautet:
Theils aus dein Guomenschatze der Alten, aus dem Sprichwörtervorrathe
der Griechen und Römer, theils aus der Verwandtschaft des Sprichworts mit
der Fabel und dem Einflüsse allbekannter Parabeln, Sagen und Allegorien
der ältesten Zeit; vor Allem aber stammen sie aus der Bibel. Die Sprüche
der Lebensweisheit, welche diese enthält, sind in reichster Fülle in die Sprich¬
wörterschätze der neueren Sprachen übergegangen, ja es werden gewisse Lebens-
erfahrungen, gewisse gleichartige Citate, gewisse allgemeine Wahrheiten und be¬
stimmte rhetorische Ausdrucksformen ausschließlich im Sprachgewande und in
sinngetreuer Wiedergabe des Bibelwortes vou Mund zu Mund getragen. Be¬
sonders diese Partie des sprichwörtlichen Lehrstoffs verleiht den eigenthümlich
veranlagten und verschiedenartig ausmündenden Redeformen des Sprichworts ein
gleichartiges Gepräge, das uns ebenso sehr überrascht durch die überwältigende
Macht der in das Volksbewußtsein eingedrungenen biblischen Materien als
durch die Couceptionsfähigkeit der in den Ausdrücke" der Bibel sich ergehenden
Menge, die immer und immer wieder zu jenen unwandelbaren Lebenswahr-
heiten zurückkehrt.


Dr. Martin Luther's vermischte Predigten. Herausgegeben von Ernst
Ludwig Enders. Erster Band. Zweite Auflage. Frankfurt am Main, Verlag
von Heyder und Zimmer. 1877.

Die neue Auflage zeigt, verglichen mit der ersten, mehrfache wesentliche
Erweiterungen. Zunächst sind diejenigen Predigten hier in ihrer ältesten
Gestalt aufgenommen, welche die Bearbeiter der Kirchenpoftille ihrer Ueberar-
beitung zu Grunde legten, und die sie durch Umgestaltung abschwächten. Sodann
wurden ewige Predigten Luther's herangezogen, die von den früheren
Sammlern der Werke des Reformators unberücksichtigt blieben, z. B. "Wie
man sich gegen die Tyrannen verhalten soll". Die umfangreichste Erweiterung
aber soll die neue Auflage durch den erstmaligen Abdruck einer größern Anzahl von
Predigten aus Wolfenbütteler Handschriften, deren Benutzung durch die Liberalität
der Bibliothekare Bartels und v. Heiuemaun ermöglicht wurde, erhalten. Was


Wenn die Deutschen, die Engländer, die Franzosen und die Italiener, wie hier
gezeigt wird, vielfach dieselben oder nahezu dieselben Sprichwörter haben, so
ist der Grund zunächst in einem allen gemeinsamen innern Kern des Seelen-
uud Gemüthslebens derselben zu suchen, an dessen Ausgestaltung jedes Volk
nach seiner geistigen Individualität theilgenommen hat. Andrerseits aber lassen
sich ganz bestimmte Materialien nachweisen, die der Volksverstand nicht er¬
funden hat, und die nicht von einzelnen der Vergessenheit anheimgefallneu
Produzenten herrühren und sich ebensowenig von bloß lokalen Vorgängen her¬
schreiben. Wo kommen sie aber in Wahrheit her? Die Antwort lautet:
Theils aus dein Guomenschatze der Alten, aus dem Sprichwörtervorrathe
der Griechen und Römer, theils aus der Verwandtschaft des Sprichworts mit
der Fabel und dem Einflüsse allbekannter Parabeln, Sagen und Allegorien
der ältesten Zeit; vor Allem aber stammen sie aus der Bibel. Die Sprüche
der Lebensweisheit, welche diese enthält, sind in reichster Fülle in die Sprich¬
wörterschätze der neueren Sprachen übergegangen, ja es werden gewisse Lebens-
erfahrungen, gewisse gleichartige Citate, gewisse allgemeine Wahrheiten und be¬
stimmte rhetorische Ausdrucksformen ausschließlich im Sprachgewande und in
sinngetreuer Wiedergabe des Bibelwortes vou Mund zu Mund getragen. Be¬
sonders diese Partie des sprichwörtlichen Lehrstoffs verleiht den eigenthümlich
veranlagten und verschiedenartig ausmündenden Redeformen des Sprichworts ein
gleichartiges Gepräge, das uns ebenso sehr überrascht durch die überwältigende
Macht der in das Volksbewußtsein eingedrungenen biblischen Materien als
durch die Couceptionsfähigkeit der in den Ausdrücke» der Bibel sich ergehenden
Menge, die immer und immer wieder zu jenen unwandelbaren Lebenswahr-
heiten zurückkehrt.


Dr. Martin Luther's vermischte Predigten. Herausgegeben von Ernst
Ludwig Enders. Erster Band. Zweite Auflage. Frankfurt am Main, Verlag
von Heyder und Zimmer. 1877.

Die neue Auflage zeigt, verglichen mit der ersten, mehrfache wesentliche
Erweiterungen. Zunächst sind diejenigen Predigten hier in ihrer ältesten
Gestalt aufgenommen, welche die Bearbeiter der Kirchenpoftille ihrer Ueberar-
beitung zu Grunde legten, und die sie durch Umgestaltung abschwächten. Sodann
wurden ewige Predigten Luther's herangezogen, die von den früheren
Sammlern der Werke des Reformators unberücksichtigt blieben, z. B. „Wie
man sich gegen die Tyrannen verhalten soll". Die umfangreichste Erweiterung
aber soll die neue Auflage durch den erstmaligen Abdruck einer größern Anzahl von
Predigten aus Wolfenbütteler Handschriften, deren Benutzung durch die Liberalität
der Bibliothekare Bartels und v. Heiuemaun ermöglicht wurde, erhalten. Was


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[0362] Wenn die Deutschen, die Engländer, die Franzosen und die Italiener, wie hier gezeigt wird, vielfach dieselben oder nahezu dieselben Sprichwörter haben, so ist der Grund zunächst in einem allen gemeinsamen innern Kern des Seelen- uud Gemüthslebens derselben zu suchen, an dessen Ausgestaltung jedes Volk nach seiner geistigen Individualität theilgenommen hat. Andrerseits aber lassen sich ganz bestimmte Materialien nachweisen, die der Volksverstand nicht er¬ funden hat, und die nicht von einzelnen der Vergessenheit anheimgefallneu Produzenten herrühren und sich ebensowenig von bloß lokalen Vorgängen her¬ schreiben. Wo kommen sie aber in Wahrheit her? Die Antwort lautet: Theils aus dein Guomenschatze der Alten, aus dem Sprichwörtervorrathe der Griechen und Römer, theils aus der Verwandtschaft des Sprichworts mit der Fabel und dem Einflüsse allbekannter Parabeln, Sagen und Allegorien der ältesten Zeit; vor Allem aber stammen sie aus der Bibel. Die Sprüche der Lebensweisheit, welche diese enthält, sind in reichster Fülle in die Sprich¬ wörterschätze der neueren Sprachen übergegangen, ja es werden gewisse Lebens- erfahrungen, gewisse gleichartige Citate, gewisse allgemeine Wahrheiten und be¬ stimmte rhetorische Ausdrucksformen ausschließlich im Sprachgewande und in sinngetreuer Wiedergabe des Bibelwortes vou Mund zu Mund getragen. Be¬ sonders diese Partie des sprichwörtlichen Lehrstoffs verleiht den eigenthümlich veranlagten und verschiedenartig ausmündenden Redeformen des Sprichworts ein gleichartiges Gepräge, das uns ebenso sehr überrascht durch die überwältigende Macht der in das Volksbewußtsein eingedrungenen biblischen Materien als durch die Couceptionsfähigkeit der in den Ausdrücke» der Bibel sich ergehenden Menge, die immer und immer wieder zu jenen unwandelbaren Lebenswahr- heiten zurückkehrt. Dr. Martin Luther's vermischte Predigten. Herausgegeben von Ernst Ludwig Enders. Erster Band. Zweite Auflage. Frankfurt am Main, Verlag von Heyder und Zimmer. 1877. Die neue Auflage zeigt, verglichen mit der ersten, mehrfache wesentliche Erweiterungen. Zunächst sind diejenigen Predigten hier in ihrer ältesten Gestalt aufgenommen, welche die Bearbeiter der Kirchenpoftille ihrer Ueberar- beitung zu Grunde legten, und die sie durch Umgestaltung abschwächten. Sodann wurden ewige Predigten Luther's herangezogen, die von den früheren Sammlern der Werke des Reformators unberücksichtigt blieben, z. B. „Wie man sich gegen die Tyrannen verhalten soll". Die umfangreichste Erweiterung aber soll die neue Auflage durch den erstmaligen Abdruck einer größern Anzahl von Predigten aus Wolfenbütteler Handschriften, deren Benutzung durch die Liberalität der Bibliothekare Bartels und v. Heiuemaun ermöglicht wurde, erhalten. Was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/362>, abgerufen am 01.07.2024.