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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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der Darstellung sprachlicher Gebilde, jene Eigenthümlichkeiten in Redewendungen,
jene Eigenart von Bildern, jene individuelle Verbindung von Tropen, Figuren
und Metaphern zu eigen machen muß, aus denen die Phraseologie einer jeden
Sprache besteht. Hier aber helfen uns die gewöhnlichen Sammlungen von
Redensarten und Alltagsgesprächen aus dem Umgang und Verkehr der Men¬
schen nicht genügend, wenn nur das Bedürfniß empfinden, in den Geist der
betreffenden Sprache einzudringen und uns an den Erzeugnissen ihrer Literatur
zu erfreuen. Die Mannichfaltigkeit der individuellen Gebilde einer Sprache
erstreckt sich nicht bloß über die sogenannten Idiotismen, sondern zugleich über
die gesammte rhetorische Ausdrncksfähigkeit derselben, wie wir sie einerseits in
der selbständigen Art zu denken bei den hervorragenden Dichtern und Schrift¬
stellern der Nation, welche sie redet, andrerseits in der volkstümlichen Fassung
sprachlicher Momente innerhalb des Bereichs der Gedankcnströme, d. h. im
Sprichworte finden. Das Sprachmaterial sprichwörtlichen Gebietes ist ein fast
unerschöpfliches. Es umfaßt den gestimmten Inhalt des socialen, sinnlichen
nud geistigen Lebens bald in individuellen, bald in universellen Gebilden. In
allen Geleisen des Volkslebens trifft man vom Sprichwort kultivirte Stellen,
es erstreckt sich auf Alles, was das Volk kennt und empfindet, glaubt und hofft.
Das Naturleben mit seinen Erscheinungen auf der Erde und um Himmel, das
Thierleben insbesondere, aus dem unsre Sprachen ihre bemerkenswerthesten
Sprachbilder schöpfen, das Menschenleben in seinen mannichfaltigen Beziehungen
und seinen weitverzweigten Gestaltungen des geselligen und geschäftlichen Ver¬
kehrs, Handel und Wandel, Jugend und Alter, Liebe, Ehe und Familie
Freund und Nachbar, und wie diese Beziehungen mit ihren Freuden und Leiden,
Wünschen und Hoffnungen sonst noch alle heißen, sie alle gehören zum Inhalte
des Sprichwortes und liefern Spenden zum sprichwörtlichen Sprachschatze, der
uuter der Devise "Natürliches, Menschliches, Göttliches" Alles vereinigt, was
zur Volkstümlichkeit zu rechnen ist. So aber ist es immer ein verdienstliches
Unternehmen, wenn wie hier der Versuch gemacht wird, zu zeigen, wie werth¬
voll die Kenntniß des Sprichworts für das Studium der neueren Sprachen
ist, und wenn dabei eine Charakteristik desselben gegeben wird. Selbstver¬
ständlich kann es sich bei einer Schrift von sechsundachtzig Seiten nicht um eine
Klassifizirung der ungeheure" sprichwörtlichen Schätze handeln, sondern lediglich
um eine skizzenhafte Orientirung auf dem in Rede stehenden Gebiete und um
Beiträge zu einer "Lehre vom Sprichworte innerhalb der Phraseologie" der
ins Auge gefaßten vier Hauptspracheu, bereu Sprichwörter nach verschiedenen
Gesichtspunkten in einer Auswahl neben einander gestellt werden. Diese Ge¬
sichtspunkte sind zunächst Gleichklang und Reim, dann Allegorie und Gleichniß,
Hyperbel, Tropus, Paradoxon, Ironie, Antithese und kontradiktvrische Formeln.


der Darstellung sprachlicher Gebilde, jene Eigenthümlichkeiten in Redewendungen,
jene Eigenart von Bildern, jene individuelle Verbindung von Tropen, Figuren
und Metaphern zu eigen machen muß, aus denen die Phraseologie einer jeden
Sprache besteht. Hier aber helfen uns die gewöhnlichen Sammlungen von
Redensarten und Alltagsgesprächen aus dem Umgang und Verkehr der Men¬
schen nicht genügend, wenn nur das Bedürfniß empfinden, in den Geist der
betreffenden Sprache einzudringen und uns an den Erzeugnissen ihrer Literatur
zu erfreuen. Die Mannichfaltigkeit der individuellen Gebilde einer Sprache
erstreckt sich nicht bloß über die sogenannten Idiotismen, sondern zugleich über
die gesammte rhetorische Ausdrncksfähigkeit derselben, wie wir sie einerseits in
der selbständigen Art zu denken bei den hervorragenden Dichtern und Schrift¬
stellern der Nation, welche sie redet, andrerseits in der volkstümlichen Fassung
sprachlicher Momente innerhalb des Bereichs der Gedankcnströme, d. h. im
Sprichworte finden. Das Sprachmaterial sprichwörtlichen Gebietes ist ein fast
unerschöpfliches. Es umfaßt den gestimmten Inhalt des socialen, sinnlichen
nud geistigen Lebens bald in individuellen, bald in universellen Gebilden. In
allen Geleisen des Volkslebens trifft man vom Sprichwort kultivirte Stellen,
es erstreckt sich auf Alles, was das Volk kennt und empfindet, glaubt und hofft.
Das Naturleben mit seinen Erscheinungen auf der Erde und um Himmel, das
Thierleben insbesondere, aus dem unsre Sprachen ihre bemerkenswerthesten
Sprachbilder schöpfen, das Menschenleben in seinen mannichfaltigen Beziehungen
und seinen weitverzweigten Gestaltungen des geselligen und geschäftlichen Ver¬
kehrs, Handel und Wandel, Jugend und Alter, Liebe, Ehe und Familie
Freund und Nachbar, und wie diese Beziehungen mit ihren Freuden und Leiden,
Wünschen und Hoffnungen sonst noch alle heißen, sie alle gehören zum Inhalte
des Sprichwortes und liefern Spenden zum sprichwörtlichen Sprachschatze, der
uuter der Devise „Natürliches, Menschliches, Göttliches" Alles vereinigt, was
zur Volkstümlichkeit zu rechnen ist. So aber ist es immer ein verdienstliches
Unternehmen, wenn wie hier der Versuch gemacht wird, zu zeigen, wie werth¬
voll die Kenntniß des Sprichworts für das Studium der neueren Sprachen
ist, und wenn dabei eine Charakteristik desselben gegeben wird. Selbstver¬
ständlich kann es sich bei einer Schrift von sechsundachtzig Seiten nicht um eine
Klassifizirung der ungeheure« sprichwörtlichen Schätze handeln, sondern lediglich
um eine skizzenhafte Orientirung auf dem in Rede stehenden Gebiete und um
Beiträge zu einer „Lehre vom Sprichworte innerhalb der Phraseologie" der
ins Auge gefaßten vier Hauptspracheu, bereu Sprichwörter nach verschiedenen
Gesichtspunkten in einer Auswahl neben einander gestellt werden. Diese Ge¬
sichtspunkte sind zunächst Gleichklang und Reim, dann Allegorie und Gleichniß,
Hyperbel, Tropus, Paradoxon, Ironie, Antithese und kontradiktvrische Formeln.


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[0361] der Darstellung sprachlicher Gebilde, jene Eigenthümlichkeiten in Redewendungen, jene Eigenart von Bildern, jene individuelle Verbindung von Tropen, Figuren und Metaphern zu eigen machen muß, aus denen die Phraseologie einer jeden Sprache besteht. Hier aber helfen uns die gewöhnlichen Sammlungen von Redensarten und Alltagsgesprächen aus dem Umgang und Verkehr der Men¬ schen nicht genügend, wenn nur das Bedürfniß empfinden, in den Geist der betreffenden Sprache einzudringen und uns an den Erzeugnissen ihrer Literatur zu erfreuen. Die Mannichfaltigkeit der individuellen Gebilde einer Sprache erstreckt sich nicht bloß über die sogenannten Idiotismen, sondern zugleich über die gesammte rhetorische Ausdrncksfähigkeit derselben, wie wir sie einerseits in der selbständigen Art zu denken bei den hervorragenden Dichtern und Schrift¬ stellern der Nation, welche sie redet, andrerseits in der volkstümlichen Fassung sprachlicher Momente innerhalb des Bereichs der Gedankcnströme, d. h. im Sprichworte finden. Das Sprachmaterial sprichwörtlichen Gebietes ist ein fast unerschöpfliches. Es umfaßt den gestimmten Inhalt des socialen, sinnlichen nud geistigen Lebens bald in individuellen, bald in universellen Gebilden. In allen Geleisen des Volkslebens trifft man vom Sprichwort kultivirte Stellen, es erstreckt sich auf Alles, was das Volk kennt und empfindet, glaubt und hofft. Das Naturleben mit seinen Erscheinungen auf der Erde und um Himmel, das Thierleben insbesondere, aus dem unsre Sprachen ihre bemerkenswerthesten Sprachbilder schöpfen, das Menschenleben in seinen mannichfaltigen Beziehungen und seinen weitverzweigten Gestaltungen des geselligen und geschäftlichen Ver¬ kehrs, Handel und Wandel, Jugend und Alter, Liebe, Ehe und Familie Freund und Nachbar, und wie diese Beziehungen mit ihren Freuden und Leiden, Wünschen und Hoffnungen sonst noch alle heißen, sie alle gehören zum Inhalte des Sprichwortes und liefern Spenden zum sprichwörtlichen Sprachschatze, der uuter der Devise „Natürliches, Menschliches, Göttliches" Alles vereinigt, was zur Volkstümlichkeit zu rechnen ist. So aber ist es immer ein verdienstliches Unternehmen, wenn wie hier der Versuch gemacht wird, zu zeigen, wie werth¬ voll die Kenntniß des Sprichworts für das Studium der neueren Sprachen ist, und wenn dabei eine Charakteristik desselben gegeben wird. Selbstver¬ ständlich kann es sich bei einer Schrift von sechsundachtzig Seiten nicht um eine Klassifizirung der ungeheure« sprichwörtlichen Schätze handeln, sondern lediglich um eine skizzenhafte Orientirung auf dem in Rede stehenden Gebiete und um Beiträge zu einer „Lehre vom Sprichworte innerhalb der Phraseologie" der ins Auge gefaßten vier Hauptspracheu, bereu Sprichwörter nach verschiedenen Gesichtspunkten in einer Auswahl neben einander gestellt werden. Diese Ge¬ sichtspunkte sind zunächst Gleichklang und Reim, dann Allegorie und Gleichniß, Hyperbel, Tropus, Paradoxon, Ironie, Antithese und kontradiktvrische Formeln.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/361>, abgerufen am 03.07.2024.