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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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unrichtig wie die obigen Mißhandlungen der Sprache, wenn man in diesen
Kreisen von einer philosophischen Doktorwürde, von freien Handzeichnungen,
von römischer Alterhumskuude, von einer besonderen Interessenvertretung, einer
schönwissenschaftlichen Bücherversteigernng, einer theologischen Buchhandlung, von
der ländlichen Arbeiterfrage, von krcunpferstarrtem Gliederschmerz und von einer
meteorologischen Depeschenankunft redet.

Gleichwie nnn die vorangestellten Adjektiven sich nicht auf das Bestimmungs¬
wort allein beziehen dürfen, so ist es auch unstatthaft, ein hinter dem Kom¬
positum folgendes Adverbiale auf das Bestimmungswort allein zu beziehen.
Auch hiergegen wird viel gesündigt, und zwar namentlich von Seiten der
Gebildeten und Gelehrten. Ausdrücke wie "Bezugnahme auf die Thatsachen",
"Ermahnungsreden zur Tugend", "die Erinnernngspflicht an seine Schuldig¬
keit", "Pflichteulehre gegen Gott und den Nächsten", "Dankesworte für die
Gnade", "Zeugnißkraft für die Hoheit des Herrn", "eine Vorbereitungsschnle
für die Sexta des Gymnasiums" sind ungehörig, kommen aber bisweilen bei
Klassikern vor. So schreibt Goethe: ..Zweifelsucht an Dem, was man sonst für
würdig gehalten hatte", und Lessing sagt: "Der Einführer in die Welt" und
"Ein Uebersetzer in neuere Sprachen."

Wir haben bisher von einfachen Kompositis gesprochen, d. h. von solchen,
die nur aus zwei Stämmen zusammengesetzt sind. Geht die Zahl der letzteren
über zwei hinaus, so nennt unsre Schrift ein solches Kompositum ein De-
koinpositnm. Auch von diesen gelten die im Obigen aufgestellten Regeln in
vollem Maße. Unrichtige Zusammenstellungen finden sich hier sowohl bei ad¬
jektivischen als bei adverbialischen Begleitern. Beispiele von jenen sind die
geprüfte Streichriemenfabrik, die unvermögende Pupillensachenverfügung, die
katholische Kirchhofsthüre, der metallne Feuerspritzenmacher, der verschämte
Armenunterstützungsverein, Beispiele von diesen die Einladuugsschrift zum Examen,
Eintrittsbedinguugen in die Anstalt, der Antwortsadressenentwnrf auf die Thron¬
rede und der Großvaterstuhl vou mütterlicher Seite.

Anderes übergehend, folgen wir nun einigen Ausführungen des Verfassers
im zweiten Abschnitte. Eine Eigenthümlichkeit der deutschen Sprache ist, wie sie
die Worte beim Verbum fluidum gesetzt haben will. Das Gesetz lautet hier:
Im Hauptsatz soll die eigentliche Personalform des Verbums stets die zweite
Stelle einnehmen und zu dem Behuf irgend ein Wort vor sich haben, und
wäre es auch nur das Wörtchen "es", das als stellvertretendes Subjektiv in allen
Fällen, wo nicht der Singular oder Plural der persönlichen Pronomina ich,
du, er das eigentliche Subjekt ist, auftreten kann. Da, wo das Verbum ein zu¬
sammengesetztes ist, kann die einfache Verbalform auch bloß den ersten Theil
der Zusammensetzung, die Partikel, vor sich schieben, z. B.: Auf rauscht das


unrichtig wie die obigen Mißhandlungen der Sprache, wenn man in diesen
Kreisen von einer philosophischen Doktorwürde, von freien Handzeichnungen,
von römischer Alterhumskuude, von einer besonderen Interessenvertretung, einer
schönwissenschaftlichen Bücherversteigernng, einer theologischen Buchhandlung, von
der ländlichen Arbeiterfrage, von krcunpferstarrtem Gliederschmerz und von einer
meteorologischen Depeschenankunft redet.

Gleichwie nnn die vorangestellten Adjektiven sich nicht auf das Bestimmungs¬
wort allein beziehen dürfen, so ist es auch unstatthaft, ein hinter dem Kom¬
positum folgendes Adverbiale auf das Bestimmungswort allein zu beziehen.
Auch hiergegen wird viel gesündigt, und zwar namentlich von Seiten der
Gebildeten und Gelehrten. Ausdrücke wie „Bezugnahme auf die Thatsachen",
„Ermahnungsreden zur Tugend", „die Erinnernngspflicht an seine Schuldig¬
keit", „Pflichteulehre gegen Gott und den Nächsten", „Dankesworte für die
Gnade", „Zeugnißkraft für die Hoheit des Herrn", „eine Vorbereitungsschnle
für die Sexta des Gymnasiums" sind ungehörig, kommen aber bisweilen bei
Klassikern vor. So schreibt Goethe: ..Zweifelsucht an Dem, was man sonst für
würdig gehalten hatte", und Lessing sagt: „Der Einführer in die Welt" und
„Ein Uebersetzer in neuere Sprachen."

Wir haben bisher von einfachen Kompositis gesprochen, d. h. von solchen,
die nur aus zwei Stämmen zusammengesetzt sind. Geht die Zahl der letzteren
über zwei hinaus, so nennt unsre Schrift ein solches Kompositum ein De-
koinpositnm. Auch von diesen gelten die im Obigen aufgestellten Regeln in
vollem Maße. Unrichtige Zusammenstellungen finden sich hier sowohl bei ad¬
jektivischen als bei adverbialischen Begleitern. Beispiele von jenen sind die
geprüfte Streichriemenfabrik, die unvermögende Pupillensachenverfügung, die
katholische Kirchhofsthüre, der metallne Feuerspritzenmacher, der verschämte
Armenunterstützungsverein, Beispiele von diesen die Einladuugsschrift zum Examen,
Eintrittsbedinguugen in die Anstalt, der Antwortsadressenentwnrf auf die Thron¬
rede und der Großvaterstuhl vou mütterlicher Seite.

Anderes übergehend, folgen wir nun einigen Ausführungen des Verfassers
im zweiten Abschnitte. Eine Eigenthümlichkeit der deutschen Sprache ist, wie sie
die Worte beim Verbum fluidum gesetzt haben will. Das Gesetz lautet hier:
Im Hauptsatz soll die eigentliche Personalform des Verbums stets die zweite
Stelle einnehmen und zu dem Behuf irgend ein Wort vor sich haben, und
wäre es auch nur das Wörtchen „es", das als stellvertretendes Subjektiv in allen
Fällen, wo nicht der Singular oder Plural der persönlichen Pronomina ich,
du, er das eigentliche Subjekt ist, auftreten kann. Da, wo das Verbum ein zu¬
sammengesetztes ist, kann die einfache Verbalform auch bloß den ersten Theil
der Zusammensetzung, die Partikel, vor sich schieben, z. B.: Auf rauscht das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/353>, abgerufen am 23.07.2024.