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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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vaterlose Erbtochter war verpflichtet, sich vom nächsten Verwandten heirathen
oder, wenn dieser sie nicht wollte, berechtigt, sich von ihm aussteuern zu
lassen. Da solche oft als unwillkommene Zugabe zu ihrem Vermögen ge-
heirathete Frauen nicht selten in der Ehe schlecht behandelt werden mochten, so
ließ ihnen der Staat einen gewissen Schutz angedeihen, indem jedem Bürger
gestattet war, gegen den Ehemann wegen schlechter Behandlung der Frau zu
klagen.

Diese gesetzlichen und rechtlichen Zustände blieben auch in Kraft, als nach
dem peloponnesischen Kriege der sittliche Rückschritt immer mehr zu Tage trat.

Wie sittlich ernste und wahrheitsliebende Männer die Entartung der guten
alten Sitte gerade beim weiblichen Geschlecht verurtheilten, und daß sie guten
Grund dazu hatten, zeigen die scharfen Angriffe bei Euripides und Aristo¬
phanes, die hierin übereinstimmen, so divergirend auch sonst ihre Ansichten
und Standpunkte sind.

Bei Euripides mochte der erste Anlaß zu seiner Weiberfeindschaft in den
schlimmen Erfahrungen liegen, die er im eigenen Hause an zwei untreuen
Frauen gemacht hatte, der Chörile, deren Extravaganzen Aristophanes mehr¬
fach erwähnt und die der Dichter wegen Ehebruchs verstoßen mußte, und auch
an seiner zweiten Gattin Melito. Er sprach sich gegen alles Schlechte und
Mangelhafte beim weiblichen Geschlechte so scharf und bitter aus, daß er schon
den Zeitgenossen als Weiberhasser galt und Aristophanes ihn als solchen wohl
mit allzu starken Strichen zeichnet. Doch kann man nicht umhin eine that¬
sächliche Grundlage vorauszusetzen, wenn der ernste, sittenreine und philoso¬
phische Dichter so oft das Geschick der Frauen beklagt, des "unseligsten und
verdorbensten Geschlechts auf Erden", die im günstigsten Falle noch einige
Stufen unter dem untauglichsten Manne stehen und nicht den geringsten An¬
theil am Schönen, den reichsten am Laster haben. Er verwünscht das Weib
als der Uebel größtes, mit dem die Götter uns gestraft haben, und seine
Tragödie "Medea" läßt all' sein Mitleid und seine Abneigung gegen dieses
Geschlecht auf Einmal erkennen.

Wenn Aristophanes diesen Weiberhaß seines Gegners bei zahlreichen Ge¬
legenheiten benutzt, um diesen durch übertriebenen Ausdruck desselben lächerlich
zu machen, so leitet ihn dabei zugleich die Absicht, seiner eigenen sittlichen Ent¬
rüstung über die Verderbtheit der Zeit eine" Ausdruck zu geben, dessen Schärfe
dann nicht ihm selbst zur Last gelegt werden konnte. In der That denkt er
von den Frauen seiner Zeit noch weit niedriger als Euripides. Die Schilde¬
rung, welche in seinen Stücken "Lysistrate", "Thesmophoriazusen" und "Ekkle-
siazusen" von dem sittlichen Zustande des weiblichen Geschlechts gegeben wird,
ist zum Theil, selbst wenn man poetische Uebertreibungen in Anschlag bringt,


Grenzboten II. 1877. 3"

vaterlose Erbtochter war verpflichtet, sich vom nächsten Verwandten heirathen
oder, wenn dieser sie nicht wollte, berechtigt, sich von ihm aussteuern zu
lassen. Da solche oft als unwillkommene Zugabe zu ihrem Vermögen ge-
heirathete Frauen nicht selten in der Ehe schlecht behandelt werden mochten, so
ließ ihnen der Staat einen gewissen Schutz angedeihen, indem jedem Bürger
gestattet war, gegen den Ehemann wegen schlechter Behandlung der Frau zu
klagen.

Diese gesetzlichen und rechtlichen Zustände blieben auch in Kraft, als nach
dem peloponnesischen Kriege der sittliche Rückschritt immer mehr zu Tage trat.

Wie sittlich ernste und wahrheitsliebende Männer die Entartung der guten
alten Sitte gerade beim weiblichen Geschlecht verurtheilten, und daß sie guten
Grund dazu hatten, zeigen die scharfen Angriffe bei Euripides und Aristo¬
phanes, die hierin übereinstimmen, so divergirend auch sonst ihre Ansichten
und Standpunkte sind.

Bei Euripides mochte der erste Anlaß zu seiner Weiberfeindschaft in den
schlimmen Erfahrungen liegen, die er im eigenen Hause an zwei untreuen
Frauen gemacht hatte, der Chörile, deren Extravaganzen Aristophanes mehr¬
fach erwähnt und die der Dichter wegen Ehebruchs verstoßen mußte, und auch
an seiner zweiten Gattin Melito. Er sprach sich gegen alles Schlechte und
Mangelhafte beim weiblichen Geschlechte so scharf und bitter aus, daß er schon
den Zeitgenossen als Weiberhasser galt und Aristophanes ihn als solchen wohl
mit allzu starken Strichen zeichnet. Doch kann man nicht umhin eine that¬
sächliche Grundlage vorauszusetzen, wenn der ernste, sittenreine und philoso¬
phische Dichter so oft das Geschick der Frauen beklagt, des „unseligsten und
verdorbensten Geschlechts auf Erden", die im günstigsten Falle noch einige
Stufen unter dem untauglichsten Manne stehen und nicht den geringsten An¬
theil am Schönen, den reichsten am Laster haben. Er verwünscht das Weib
als der Uebel größtes, mit dem die Götter uns gestraft haben, und seine
Tragödie „Medea" läßt all' sein Mitleid und seine Abneigung gegen dieses
Geschlecht auf Einmal erkennen.

Wenn Aristophanes diesen Weiberhaß seines Gegners bei zahlreichen Ge¬
legenheiten benutzt, um diesen durch übertriebenen Ausdruck desselben lächerlich
zu machen, so leitet ihn dabei zugleich die Absicht, seiner eigenen sittlichen Ent¬
rüstung über die Verderbtheit der Zeit eine» Ausdruck zu geben, dessen Schärfe
dann nicht ihm selbst zur Last gelegt werden konnte. In der That denkt er
von den Frauen seiner Zeit noch weit niedriger als Euripides. Die Schilde¬
rung, welche in seinen Stücken „Lysistrate", „Thesmophoriazusen" und „Ekkle-
siazusen" von dem sittlichen Zustande des weiblichen Geschlechts gegeben wird,
ist zum Theil, selbst wenn man poetische Uebertreibungen in Anschlag bringt,


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[0309] vaterlose Erbtochter war verpflichtet, sich vom nächsten Verwandten heirathen oder, wenn dieser sie nicht wollte, berechtigt, sich von ihm aussteuern zu lassen. Da solche oft als unwillkommene Zugabe zu ihrem Vermögen ge- heirathete Frauen nicht selten in der Ehe schlecht behandelt werden mochten, so ließ ihnen der Staat einen gewissen Schutz angedeihen, indem jedem Bürger gestattet war, gegen den Ehemann wegen schlechter Behandlung der Frau zu klagen. Diese gesetzlichen und rechtlichen Zustände blieben auch in Kraft, als nach dem peloponnesischen Kriege der sittliche Rückschritt immer mehr zu Tage trat. Wie sittlich ernste und wahrheitsliebende Männer die Entartung der guten alten Sitte gerade beim weiblichen Geschlecht verurtheilten, und daß sie guten Grund dazu hatten, zeigen die scharfen Angriffe bei Euripides und Aristo¬ phanes, die hierin übereinstimmen, so divergirend auch sonst ihre Ansichten und Standpunkte sind. Bei Euripides mochte der erste Anlaß zu seiner Weiberfeindschaft in den schlimmen Erfahrungen liegen, die er im eigenen Hause an zwei untreuen Frauen gemacht hatte, der Chörile, deren Extravaganzen Aristophanes mehr¬ fach erwähnt und die der Dichter wegen Ehebruchs verstoßen mußte, und auch an seiner zweiten Gattin Melito. Er sprach sich gegen alles Schlechte und Mangelhafte beim weiblichen Geschlechte so scharf und bitter aus, daß er schon den Zeitgenossen als Weiberhasser galt und Aristophanes ihn als solchen wohl mit allzu starken Strichen zeichnet. Doch kann man nicht umhin eine that¬ sächliche Grundlage vorauszusetzen, wenn der ernste, sittenreine und philoso¬ phische Dichter so oft das Geschick der Frauen beklagt, des „unseligsten und verdorbensten Geschlechts auf Erden", die im günstigsten Falle noch einige Stufen unter dem untauglichsten Manne stehen und nicht den geringsten An¬ theil am Schönen, den reichsten am Laster haben. Er verwünscht das Weib als der Uebel größtes, mit dem die Götter uns gestraft haben, und seine Tragödie „Medea" läßt all' sein Mitleid und seine Abneigung gegen dieses Geschlecht auf Einmal erkennen. Wenn Aristophanes diesen Weiberhaß seines Gegners bei zahlreichen Ge¬ legenheiten benutzt, um diesen durch übertriebenen Ausdruck desselben lächerlich zu machen, so leitet ihn dabei zugleich die Absicht, seiner eigenen sittlichen Ent¬ rüstung über die Verderbtheit der Zeit eine» Ausdruck zu geben, dessen Schärfe dann nicht ihm selbst zur Last gelegt werden konnte. In der That denkt er von den Frauen seiner Zeit noch weit niedriger als Euripides. Die Schilde¬ rung, welche in seinen Stücken „Lysistrate", „Thesmophoriazusen" und „Ekkle- siazusen" von dem sittlichen Zustande des weiblichen Geschlechts gegeben wird, ist zum Theil, selbst wenn man poetische Uebertreibungen in Anschlag bringt, Grenzboten II. 1877. 3»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/309>, abgerufen am 03.07.2024.