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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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gegangen ist. Manche glauben, es sei nicht von Konfutse, dem es die Chinesen
zuschreiben, sondern die Kompilation eines Dynasten von Choo, der im zwölften
Jahrhundert gelebt habe. Jedenfalls bildet sein Erscheinen einen der wichtigsten
Wendepunkte in der Kulturgeschichte China's, da es auf die Anschauungen und
Lebensgewohnheiten der Chinesen aller Jahrhunderte bis auf die Gegenwart
herab einen tiefgehenden Einfluß geübt hat, dem der keines anderen Buches
gleichkommt. Auch für die geringste häusliche Verrichtung und die unbedeu-
tendsten Pflichten und Leistungen des täglichen Verkehrs hat der Verfasser
Normen und Regeln aufgestellt. Und welchen Werth noch die heutige Gene¬
ration auf das Buch legt, erhellt daraus, daß in Peking ein eignes Kollegium
von sechs kaiserlichen Räthen besteht, welches nur zum Zweck der Überwachung
der strikten Befolgung der Vorschriften, die das Le ke enthält, eingerichtet ist
und seine Beaufsichtigung über das gesammte Reich erstreckt. Die ganze Seele
des Chinesen geht in Ceremoniell auf, und deßhalb kann man das Ritnalien-
bnch als die treueste Schilderung des ureigner Wesens bezeichnen, die je ein
Volk durch einen seiner Stimmführer von sich selbst entworfen hat. Den
zarteren Regungen des Gemüthes, wenn etwas der Art bei einem Chinesen zu
suchen ist, und ebenso allen gesellschaftlichen und moralischen Pflichten wird
durch Ceremonien Genüge gethan. Es gibt keine Wechselbeziehung zwischen
Sterblichen, für welche der Sohn des Reichs der Mitte nicht durch irgend
einen Paragraphen seines Formalitütencodex gesorgt hätte. Der ganze Mensch
in seinem Verhältnisse zu Eltern und Geschwistern, zur Gesellschaft, zum
Staate, zu den Göttern geht in diesem ungeheuren Wüste von Formeln auf.

Von den "klassischen" Schriften, die sämmtlich das Gepräge des Geistes
Konfntse's tragen, kann indeß nur eine mit voller Bestimmtheit auf diesen
Weltweisen als Verfasser zurückgeführt werden, nämlich das Chur Tsew, das
Frühlings- und Herbstjahrbuch. "Die Welt", so berichtet Mengtseu, ein
späterer chinesischer Philosoph, "begann aus den Fugen zu gehen, und Gesetz
und Recht wurden mit Füßen getreten. Gottlose Rede und Gewaltthat hatten
die Oberhand. Der Sohn mordete den Vater, und selbst das Blut des
höchsten Gebieters wurde vergossen. Konfutse fürchtete für die Menschheit und
schrieb das Chur Tsew. Und kaum war es erschienen, als die abtrünnigen
Berather des Herrschers erbebten und die ruchlosen Söhne erzitterten. Ich
habe es gewagt, die Gerechtigkeit wieder zur Herrschaft zu bringen, schrieb
Konfutse." Hiernach und nach dem Titel dieser Schrift, der auf "die er¬
quickende, neues Leben verleihende Wirkung des Ruhms und welk machende
Kraft des herben Tadels" hinweisen soll, sollte man erwarten, an der
Hand fortlaufender geschichtlicher Erzählung mit eingestreuten philosophischen
Betrachtungen ein Bild jener entlegnen Zeit mit den wichtigsten Typen und


gegangen ist. Manche glauben, es sei nicht von Konfutse, dem es die Chinesen
zuschreiben, sondern die Kompilation eines Dynasten von Choo, der im zwölften
Jahrhundert gelebt habe. Jedenfalls bildet sein Erscheinen einen der wichtigsten
Wendepunkte in der Kulturgeschichte China's, da es auf die Anschauungen und
Lebensgewohnheiten der Chinesen aller Jahrhunderte bis auf die Gegenwart
herab einen tiefgehenden Einfluß geübt hat, dem der keines anderen Buches
gleichkommt. Auch für die geringste häusliche Verrichtung und die unbedeu-
tendsten Pflichten und Leistungen des täglichen Verkehrs hat der Verfasser
Normen und Regeln aufgestellt. Und welchen Werth noch die heutige Gene¬
ration auf das Buch legt, erhellt daraus, daß in Peking ein eignes Kollegium
von sechs kaiserlichen Räthen besteht, welches nur zum Zweck der Überwachung
der strikten Befolgung der Vorschriften, die das Le ke enthält, eingerichtet ist
und seine Beaufsichtigung über das gesammte Reich erstreckt. Die ganze Seele
des Chinesen geht in Ceremoniell auf, und deßhalb kann man das Ritnalien-
bnch als die treueste Schilderung des ureigner Wesens bezeichnen, die je ein
Volk durch einen seiner Stimmführer von sich selbst entworfen hat. Den
zarteren Regungen des Gemüthes, wenn etwas der Art bei einem Chinesen zu
suchen ist, und ebenso allen gesellschaftlichen und moralischen Pflichten wird
durch Ceremonien Genüge gethan. Es gibt keine Wechselbeziehung zwischen
Sterblichen, für welche der Sohn des Reichs der Mitte nicht durch irgend
einen Paragraphen seines Formalitütencodex gesorgt hätte. Der ganze Mensch
in seinem Verhältnisse zu Eltern und Geschwistern, zur Gesellschaft, zum
Staate, zu den Göttern geht in diesem ungeheuren Wüste von Formeln auf.

Von den „klassischen" Schriften, die sämmtlich das Gepräge des Geistes
Konfntse's tragen, kann indeß nur eine mit voller Bestimmtheit auf diesen
Weltweisen als Verfasser zurückgeführt werden, nämlich das Chur Tsew, das
Frühlings- und Herbstjahrbuch. „Die Welt", so berichtet Mengtseu, ein
späterer chinesischer Philosoph, „begann aus den Fugen zu gehen, und Gesetz
und Recht wurden mit Füßen getreten. Gottlose Rede und Gewaltthat hatten
die Oberhand. Der Sohn mordete den Vater, und selbst das Blut des
höchsten Gebieters wurde vergossen. Konfutse fürchtete für die Menschheit und
schrieb das Chur Tsew. Und kaum war es erschienen, als die abtrünnigen
Berather des Herrschers erbebten und die ruchlosen Söhne erzitterten. Ich
habe es gewagt, die Gerechtigkeit wieder zur Herrschaft zu bringen, schrieb
Konfutse." Hiernach und nach dem Titel dieser Schrift, der auf „die er¬
quickende, neues Leben verleihende Wirkung des Ruhms und welk machende
Kraft des herben Tadels" hinweisen soll, sollte man erwarten, an der
Hand fortlaufender geschichtlicher Erzählung mit eingestreuten philosophischen
Betrachtungen ein Bild jener entlegnen Zeit mit den wichtigsten Typen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/275>, abgerufen am 03.07.2024.