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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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"Sel'gar Göttern scheint er nur vergleichbar
Jener Mann, der dir genüber sitzet,
Aus der Nähe deine süße Stimme
Höret und dein herzerfreuend Lachen,
Das mein Herz im Busen läßt erzittern.
Denn wenn ich dich sehe, ist die Stimme
Alsobald gebrochen, stockt die Zunge,
Meine Haut durchrieselt feines Feuer;
Nichts mehr seh'n die Augen; dazu brausen
Dumpf die Ohren, Hitze überläuft mich,
Zittern faßt den ganzen Leib, der blasser
Als der Wiese Gras; -- fast schein' ich sterbend." --

Einer anderen Freundin, der Atthis, ruft sie zu: "Mich peinigt wieder
Eros, das unbändige Ungethüm, das bittersüße. Aber dir, o Atthis, behagt
es nicht, meiner zu gedenken; du fliegst der Andromeda zu." -- Sie redet von
ihrem "stürmischen und rasenden Herzen" und bittet die goldthronende Aphrodite,
sie nicht, "durch Jammer und Betrübniß zu Grunde zu richten", sondern in
dem glühend geliebten Manne Gegenliebe zu erwecken. "So spricht sich das
leidenschaftlich erregte Gemüth der Sappho mit einer Offenherzigkeit aus, die
von unsern Sitten himmelweit entfernt ist, aber niemals fehlt die Alles ver¬
schönernde und veredelnde Grazie. Sie sagt es gerade heraus: Ich verlange,
daß der reizvolle Menon gerufen werde, wenn das Mahl zum Genusse mir
gereichen soll, und richtet an einen ausgezeichneten Jüngling die Worte: Tritt
mir genüber, o Freund, und laß die in deinen Augen wohnende Anmuth sich
offenbaren. Auf keinen Fall kann ihr aber der Vorwurf gemacht werden,
daß sie noch über die Zeit der Jugend hinaus den Männern zu gefallen ge¬
sucht habe und ihren Bewerbungen entgegengekommen sei. Vielmehr sagt
sie: Du bist mein Freund, darum rathe ich dir, eine jüngere Ehegenossin zu
suchen; ich kann es nicht über's Herz bringen als die ältere dein Haus zu
theilen."

Uebrigens war die Dichterin eine Zeit lang mit einem begüterten Manne
aus Andros verheirathet und hatte eine Tochter, "die liebliche, goldenen Blumen
vergleichbare Kiels," und wir haben keinen Grund, sie für eine weniger treue
Gattin als zärtliche Mutter zu halten. Für die Strenge ihrer sittlichen An¬
schauungen ist endlich noch ein Beweis aus der Offenheit und Entrüstung her¬
zunehmen , mit welcher sie ihren Bruder wegen des Umganges mit einer Hetäre
tadelt; denn sie hätte sich das sicher nicht erlaubt, wenn sie eine Zurückgabe
der Vorwürfe hätte fürchten müssen. Wäre es nöthig, so könnte man noch
als Beleg für ihre Achtung vor dem äußeren Anstand die tadelnden Worte
anführen, die sie einer jungen Nebenbuhlerin in der Dichtkunst zuruft: "Welche
Frau hat dir den Sinn verdreht, die ein bäurisches Gewand trügt und nicht


Grenzboten II. 1377. 34
„Sel'gar Göttern scheint er nur vergleichbar
Jener Mann, der dir genüber sitzet,
Aus der Nähe deine süße Stimme
Höret und dein herzerfreuend Lachen,
Das mein Herz im Busen läßt erzittern.
Denn wenn ich dich sehe, ist die Stimme
Alsobald gebrochen, stockt die Zunge,
Meine Haut durchrieselt feines Feuer;
Nichts mehr seh'n die Augen; dazu brausen
Dumpf die Ohren, Hitze überläuft mich,
Zittern faßt den ganzen Leib, der blasser
Als der Wiese Gras; — fast schein' ich sterbend." —

Einer anderen Freundin, der Atthis, ruft sie zu: „Mich peinigt wieder
Eros, das unbändige Ungethüm, das bittersüße. Aber dir, o Atthis, behagt
es nicht, meiner zu gedenken; du fliegst der Andromeda zu." — Sie redet von
ihrem „stürmischen und rasenden Herzen" und bittet die goldthronende Aphrodite,
sie nicht, „durch Jammer und Betrübniß zu Grunde zu richten", sondern in
dem glühend geliebten Manne Gegenliebe zu erwecken. „So spricht sich das
leidenschaftlich erregte Gemüth der Sappho mit einer Offenherzigkeit aus, die
von unsern Sitten himmelweit entfernt ist, aber niemals fehlt die Alles ver¬
schönernde und veredelnde Grazie. Sie sagt es gerade heraus: Ich verlange,
daß der reizvolle Menon gerufen werde, wenn das Mahl zum Genusse mir
gereichen soll, und richtet an einen ausgezeichneten Jüngling die Worte: Tritt
mir genüber, o Freund, und laß die in deinen Augen wohnende Anmuth sich
offenbaren. Auf keinen Fall kann ihr aber der Vorwurf gemacht werden,
daß sie noch über die Zeit der Jugend hinaus den Männern zu gefallen ge¬
sucht habe und ihren Bewerbungen entgegengekommen sei. Vielmehr sagt
sie: Du bist mein Freund, darum rathe ich dir, eine jüngere Ehegenossin zu
suchen; ich kann es nicht über's Herz bringen als die ältere dein Haus zu
theilen."

Uebrigens war die Dichterin eine Zeit lang mit einem begüterten Manne
aus Andros verheirathet und hatte eine Tochter, „die liebliche, goldenen Blumen
vergleichbare Kiels," und wir haben keinen Grund, sie für eine weniger treue
Gattin als zärtliche Mutter zu halten. Für die Strenge ihrer sittlichen An¬
schauungen ist endlich noch ein Beweis aus der Offenheit und Entrüstung her¬
zunehmen , mit welcher sie ihren Bruder wegen des Umganges mit einer Hetäre
tadelt; denn sie hätte sich das sicher nicht erlaubt, wenn sie eine Zurückgabe
der Vorwürfe hätte fürchten müssen. Wäre es nöthig, so könnte man noch
als Beleg für ihre Achtung vor dem äußeren Anstand die tadelnden Worte
anführen, die sie einer jungen Nebenbuhlerin in der Dichtkunst zuruft: „Welche
Frau hat dir den Sinn verdreht, die ein bäurisches Gewand trügt und nicht


Grenzboten II. 1377. 34
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[0269] „Sel'gar Göttern scheint er nur vergleichbar Jener Mann, der dir genüber sitzet, Aus der Nähe deine süße Stimme Höret und dein herzerfreuend Lachen, Das mein Herz im Busen läßt erzittern. Denn wenn ich dich sehe, ist die Stimme Alsobald gebrochen, stockt die Zunge, Meine Haut durchrieselt feines Feuer; Nichts mehr seh'n die Augen; dazu brausen Dumpf die Ohren, Hitze überläuft mich, Zittern faßt den ganzen Leib, der blasser Als der Wiese Gras; — fast schein' ich sterbend." — Einer anderen Freundin, der Atthis, ruft sie zu: „Mich peinigt wieder Eros, das unbändige Ungethüm, das bittersüße. Aber dir, o Atthis, behagt es nicht, meiner zu gedenken; du fliegst der Andromeda zu." — Sie redet von ihrem „stürmischen und rasenden Herzen" und bittet die goldthronende Aphrodite, sie nicht, „durch Jammer und Betrübniß zu Grunde zu richten", sondern in dem glühend geliebten Manne Gegenliebe zu erwecken. „So spricht sich das leidenschaftlich erregte Gemüth der Sappho mit einer Offenherzigkeit aus, die von unsern Sitten himmelweit entfernt ist, aber niemals fehlt die Alles ver¬ schönernde und veredelnde Grazie. Sie sagt es gerade heraus: Ich verlange, daß der reizvolle Menon gerufen werde, wenn das Mahl zum Genusse mir gereichen soll, und richtet an einen ausgezeichneten Jüngling die Worte: Tritt mir genüber, o Freund, und laß die in deinen Augen wohnende Anmuth sich offenbaren. Auf keinen Fall kann ihr aber der Vorwurf gemacht werden, daß sie noch über die Zeit der Jugend hinaus den Männern zu gefallen ge¬ sucht habe und ihren Bewerbungen entgegengekommen sei. Vielmehr sagt sie: Du bist mein Freund, darum rathe ich dir, eine jüngere Ehegenossin zu suchen; ich kann es nicht über's Herz bringen als die ältere dein Haus zu theilen." Uebrigens war die Dichterin eine Zeit lang mit einem begüterten Manne aus Andros verheirathet und hatte eine Tochter, „die liebliche, goldenen Blumen vergleichbare Kiels," und wir haben keinen Grund, sie für eine weniger treue Gattin als zärtliche Mutter zu halten. Für die Strenge ihrer sittlichen An¬ schauungen ist endlich noch ein Beweis aus der Offenheit und Entrüstung her¬ zunehmen , mit welcher sie ihren Bruder wegen des Umganges mit einer Hetäre tadelt; denn sie hätte sich das sicher nicht erlaubt, wenn sie eine Zurückgabe der Vorwürfe hätte fürchten müssen. Wäre es nöthig, so könnte man noch als Beleg für ihre Achtung vor dem äußeren Anstand die tadelnden Worte anführen, die sie einer jungen Nebenbuhlerin in der Dichtkunst zuruft: „Welche Frau hat dir den Sinn verdreht, die ein bäurisches Gewand trügt und nicht Grenzboten II. 1377. 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/269>, abgerufen am 03.07.2024.