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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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beuten, das Haus durchaus nicht als ihre einzige Sphäre anzusehen, und ließ
sie deßhalb noch weit mehr als die Spartanerinueu den übrigen Griechen als
unweiblich erscheinen. Die Freiheit, welche sie sich nahmen, wurde als Zügel-
losigkeit, die Ungebundenheit als Sittenlosigkeit, die Offenheit als Frechheit
aufgefaßt, und wenn nun Lieder von solcher sinnlichen Gluth wie die der
Sappho den spottsüchtigen attischen Komikern, die aus eigener Anschauung die
Verderbniß des weibliche" Geschlechts kannten, in die Hände fielen, so kann
man sich nicht wundern, daß die Dichterin diesen Spöttern, denen nichts mehr
heilig war, als gute Beute galt. Fünf bis sechs Komödien gab es, die ihren
Namen trugen und in denen sie mit größten: Unrecht als Scham- und zuchtlos
geschildert wurde. Wäre sie das gewesen, wie hätte ein Alkäos sie die "hehre,
heilige" nennen, wie hätte ein Mann von Solon's Erhabenheit und sittlicher
Größe äußern können, er möchte nicht sterben, ohne ein Lied von ihr aus¬
wendig gelernt zu haben. Die glaubwürdigsten Stimmen aus dem Alterthum
bezeugen, daß sie das Holdseligste und Lieblichste in der Poesie geleistet habe,
und wir brauchen nur die Reste ihrer bezaubernden Lieder zu betrachten, um
nicht nur davon, sondern auch von ihrer sittlichen Reinheit überzeugt zu sein.
Es ist nicht bloß das schwungvolle, meisterhaft behandelte Versmaß der nach
ihr benannten Strophe, nicht bloß der einschmeichelnde Wohllaut der Sprache
und die die Gluth der Empfindung stets beherrschende Grazie, sondern noch
mehr die reizende Naivetät, die unbefangene Offenheit und die sittliche Würde,
welche keinen Tadel gegen diese Lieder aufkommen lassen.

Die Erzählung von ihrer unkeuschen, unerwiderten Liebe zu dem schönen
Phaon und ihrem Sturz vom leukadischen Felsen ins Meer ist als auf Irr¬
thum und Verleumdung beruhende Erfindung anerkannt. Ihr vertrauter, zärt-
lichen Liebesverhältnissen gleichender Umgang mit jüngeren Mädchen kann für
die Zeit gar nichts Auffallendes haben, in welcher in Sparta, in Kreta und
gewiß auch anderswo die innigen Freundschaftsverbindungen zwischen älteren
und jüngeren Personen desselben Geschlechts, die später allerdings ausarteten,
noch als ein wesentliches Förderungsmittel sittlicher Ausbildung galten. Eine
Zeit, welche des Sokrates Umgang mit seinen Schülern verdächtigen konnte,
war auch im Stande diesen Freundinnenkreis der Sappho zu entehren, der
doch nach allen Zeugnissen nur dnrch einen lebensfrohereil und heitereren Toll
sich voll den Verbindungen spartanischer Frauen und Mädchen unterschied.
Die falsche Deutung wurde unterstützt durch die einer späteren Zeit uner¬
klärliche Gluth, mit der Sappho ihre Liebe zu den Freundinnen aussprach,
und es läßt sich nicht leugnen, aber wohl erklären, daß manche ihrer Gedichte
eine seltsame Tiefe der Leidenschaft om'lieben. So redet sie die Geliebte an:


beuten, das Haus durchaus nicht als ihre einzige Sphäre anzusehen, und ließ
sie deßhalb noch weit mehr als die Spartanerinueu den übrigen Griechen als
unweiblich erscheinen. Die Freiheit, welche sie sich nahmen, wurde als Zügel-
losigkeit, die Ungebundenheit als Sittenlosigkeit, die Offenheit als Frechheit
aufgefaßt, und wenn nun Lieder von solcher sinnlichen Gluth wie die der
Sappho den spottsüchtigen attischen Komikern, die aus eigener Anschauung die
Verderbniß des weibliche» Geschlechts kannten, in die Hände fielen, so kann
man sich nicht wundern, daß die Dichterin diesen Spöttern, denen nichts mehr
heilig war, als gute Beute galt. Fünf bis sechs Komödien gab es, die ihren
Namen trugen und in denen sie mit größten: Unrecht als Scham- und zuchtlos
geschildert wurde. Wäre sie das gewesen, wie hätte ein Alkäos sie die „hehre,
heilige" nennen, wie hätte ein Mann von Solon's Erhabenheit und sittlicher
Größe äußern können, er möchte nicht sterben, ohne ein Lied von ihr aus¬
wendig gelernt zu haben. Die glaubwürdigsten Stimmen aus dem Alterthum
bezeugen, daß sie das Holdseligste und Lieblichste in der Poesie geleistet habe,
und wir brauchen nur die Reste ihrer bezaubernden Lieder zu betrachten, um
nicht nur davon, sondern auch von ihrer sittlichen Reinheit überzeugt zu sein.
Es ist nicht bloß das schwungvolle, meisterhaft behandelte Versmaß der nach
ihr benannten Strophe, nicht bloß der einschmeichelnde Wohllaut der Sprache
und die die Gluth der Empfindung stets beherrschende Grazie, sondern noch
mehr die reizende Naivetät, die unbefangene Offenheit und die sittliche Würde,
welche keinen Tadel gegen diese Lieder aufkommen lassen.

Die Erzählung von ihrer unkeuschen, unerwiderten Liebe zu dem schönen
Phaon und ihrem Sturz vom leukadischen Felsen ins Meer ist als auf Irr¬
thum und Verleumdung beruhende Erfindung anerkannt. Ihr vertrauter, zärt-
lichen Liebesverhältnissen gleichender Umgang mit jüngeren Mädchen kann für
die Zeit gar nichts Auffallendes haben, in welcher in Sparta, in Kreta und
gewiß auch anderswo die innigen Freundschaftsverbindungen zwischen älteren
und jüngeren Personen desselben Geschlechts, die später allerdings ausarteten,
noch als ein wesentliches Förderungsmittel sittlicher Ausbildung galten. Eine
Zeit, welche des Sokrates Umgang mit seinen Schülern verdächtigen konnte,
war auch im Stande diesen Freundinnenkreis der Sappho zu entehren, der
doch nach allen Zeugnissen nur dnrch einen lebensfrohereil und heitereren Toll
sich voll den Verbindungen spartanischer Frauen und Mädchen unterschied.
Die falsche Deutung wurde unterstützt durch die einer späteren Zeit uner¬
klärliche Gluth, mit der Sappho ihre Liebe zu den Freundinnen aussprach,
und es läßt sich nicht leugnen, aber wohl erklären, daß manche ihrer Gedichte
eine seltsame Tiefe der Leidenschaft om'lieben. So redet sie die Geliebte an:


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[0268] beuten, das Haus durchaus nicht als ihre einzige Sphäre anzusehen, und ließ sie deßhalb noch weit mehr als die Spartanerinueu den übrigen Griechen als unweiblich erscheinen. Die Freiheit, welche sie sich nahmen, wurde als Zügel- losigkeit, die Ungebundenheit als Sittenlosigkeit, die Offenheit als Frechheit aufgefaßt, und wenn nun Lieder von solcher sinnlichen Gluth wie die der Sappho den spottsüchtigen attischen Komikern, die aus eigener Anschauung die Verderbniß des weibliche» Geschlechts kannten, in die Hände fielen, so kann man sich nicht wundern, daß die Dichterin diesen Spöttern, denen nichts mehr heilig war, als gute Beute galt. Fünf bis sechs Komödien gab es, die ihren Namen trugen und in denen sie mit größten: Unrecht als Scham- und zuchtlos geschildert wurde. Wäre sie das gewesen, wie hätte ein Alkäos sie die „hehre, heilige" nennen, wie hätte ein Mann von Solon's Erhabenheit und sittlicher Größe äußern können, er möchte nicht sterben, ohne ein Lied von ihr aus¬ wendig gelernt zu haben. Die glaubwürdigsten Stimmen aus dem Alterthum bezeugen, daß sie das Holdseligste und Lieblichste in der Poesie geleistet habe, und wir brauchen nur die Reste ihrer bezaubernden Lieder zu betrachten, um nicht nur davon, sondern auch von ihrer sittlichen Reinheit überzeugt zu sein. Es ist nicht bloß das schwungvolle, meisterhaft behandelte Versmaß der nach ihr benannten Strophe, nicht bloß der einschmeichelnde Wohllaut der Sprache und die die Gluth der Empfindung stets beherrschende Grazie, sondern noch mehr die reizende Naivetät, die unbefangene Offenheit und die sittliche Würde, welche keinen Tadel gegen diese Lieder aufkommen lassen. Die Erzählung von ihrer unkeuschen, unerwiderten Liebe zu dem schönen Phaon und ihrem Sturz vom leukadischen Felsen ins Meer ist als auf Irr¬ thum und Verleumdung beruhende Erfindung anerkannt. Ihr vertrauter, zärt- lichen Liebesverhältnissen gleichender Umgang mit jüngeren Mädchen kann für die Zeit gar nichts Auffallendes haben, in welcher in Sparta, in Kreta und gewiß auch anderswo die innigen Freundschaftsverbindungen zwischen älteren und jüngeren Personen desselben Geschlechts, die später allerdings ausarteten, noch als ein wesentliches Förderungsmittel sittlicher Ausbildung galten. Eine Zeit, welche des Sokrates Umgang mit seinen Schülern verdächtigen konnte, war auch im Stande diesen Freundinnenkreis der Sappho zu entehren, der doch nach allen Zeugnissen nur dnrch einen lebensfrohereil und heitereren Toll sich voll den Verbindungen spartanischer Frauen und Mädchen unterschied. Die falsche Deutung wurde unterstützt durch die einer späteren Zeit uner¬ klärliche Gluth, mit der Sappho ihre Liebe zu den Freundinnen aussprach, und es läßt sich nicht leugnen, aber wohl erklären, daß manche ihrer Gedichte eine seltsame Tiefe der Leidenschaft om'lieben. So redet sie die Geliebte an:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/268>, abgerufen am 03.07.2024.