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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Alle diese Anträge standen im Reichstage gleichzeitig zur Debatte. Daß
dieselbe zu einem praktischen Resultate führen würde, hat Niemand erwartet;
es konnte für die einzelnen Parteien immer nur darauf ankommen, ihre Stellung
zu der Angelegenheit in das rechte Licht zu setzen. Der prinzipielle Gegensatz,
welcher die Debatte durchzog, war die Frage: Gewerbefreiheit oder nicht? Von
Seiten der Centrumspartei wurde rückhaltlos und entschieden die Umkehr von
der gegenwärtigen Bahn gepredigt. Graf Galen züchtigte das Haus mit einer
mystisch-philosophischen Betrachtung, die ein Witzbold des Foyers treffend be¬
zeichnete als die Offenbarung Johannis in parlamentarisches Deutsch übersetzt.
Wie zwei verschiedene Welten -- so charakterisirte Rickert den Unterschied ^
stehen sich das heute herrschende System und die ultramvnwne Weltanschauung
gegenüber. Gerade weil mit der letzteren aber eine Verständigung von vorn¬
herein ausgeschlossen ist, hat sie sür die Diskussion der vorliegenden Fragen
kaum eine praktische Bedeutung. Ungleich größere Beachtung verdient der
Standpunkt, welchen Herr v. Kleist-Retzow entwickelte. Was er forderte, war
die unverhüllte politische Reaktion auf der ganzen Linie. Seine Parteigenossen
hatten diesmal keine rechte Freude an dem unverbesserlichen Heißsporn. Nach¬
dem der Präsident des Reichskanzleramts mit bemerkenswerthen Nachdruck das
Festhalten an der Grundlage der bestehenden Gewerbeordnung, an dem Prinzip
der Gelverbefreiheit, als die Richtschnur für die Nevisivnsthütigkeit betont
hatte, mußte es den zahlreichen Elementen der deutschkvnservativen Partei,
welche so gern ihre Regierungsfähigkeit beweisen möchte, recht fatal sein, eben
jene "Grundlage" von einem der Ihrigen mit einem gewissen Fanatismus be¬
kämpft zu sehen. Man gab denn auch möglichst zu verstehen, daß Herr
v. Kleist einen tollen Ritt auf eigene Faust gemacht habe. In der That ent¬
fernte er sich ungleich weiter von dem Boden der bestehenden Verhältnisse, als
die geschworenen Feinde der gesammten heutigen Gesellschaftsordnung, welche
sonst die Conservativen mit den Liberalen zu der "einen reaktionären Masse"
zusammenwerfen. Der Antrag der Socialdemokraten ist durchaus diskutirbar;
seine unvermeidlichen Extravaganzen halten sich in bescheidenen Grenzen. Frei¬
lich erachteten die socialistischen Redner für nöthig, sich ausdrücklich dagegen zu
verwahren, als ob sie mit dieser "Rücksichtnahme auf gegebene Faktoren"
irgendwie ihren Idealen untreu geworden wären. Die liberalen Parteien be¬
fanden sich, soweit es sich um Präzisirung des allgemeinen Standpunktes han¬
delte, ans demselben Boden mit der Regierung. Auch sie sind, "an der Grund¬
lage der Gewerbeordnung, an dem Prinzip der Gewerbefreiheit festhaltend,
dazu bereit, die bessernde Hand überall da anzulegen, wo sich auf Grund der
bisher gemachten Erfahrungen ein Bedürfniß zur Aenderung herausgestellt
hat." In der diesmaligen allgemeinen Debatte waren sie indeß durch die An-


Alle diese Anträge standen im Reichstage gleichzeitig zur Debatte. Daß
dieselbe zu einem praktischen Resultate führen würde, hat Niemand erwartet;
es konnte für die einzelnen Parteien immer nur darauf ankommen, ihre Stellung
zu der Angelegenheit in das rechte Licht zu setzen. Der prinzipielle Gegensatz,
welcher die Debatte durchzog, war die Frage: Gewerbefreiheit oder nicht? Von
Seiten der Centrumspartei wurde rückhaltlos und entschieden die Umkehr von
der gegenwärtigen Bahn gepredigt. Graf Galen züchtigte das Haus mit einer
mystisch-philosophischen Betrachtung, die ein Witzbold des Foyers treffend be¬
zeichnete als die Offenbarung Johannis in parlamentarisches Deutsch übersetzt.
Wie zwei verschiedene Welten — so charakterisirte Rickert den Unterschied ^
stehen sich das heute herrschende System und die ultramvnwne Weltanschauung
gegenüber. Gerade weil mit der letzteren aber eine Verständigung von vorn¬
herein ausgeschlossen ist, hat sie sür die Diskussion der vorliegenden Fragen
kaum eine praktische Bedeutung. Ungleich größere Beachtung verdient der
Standpunkt, welchen Herr v. Kleist-Retzow entwickelte. Was er forderte, war
die unverhüllte politische Reaktion auf der ganzen Linie. Seine Parteigenossen
hatten diesmal keine rechte Freude an dem unverbesserlichen Heißsporn. Nach¬
dem der Präsident des Reichskanzleramts mit bemerkenswerthen Nachdruck das
Festhalten an der Grundlage der bestehenden Gewerbeordnung, an dem Prinzip
der Gelverbefreiheit, als die Richtschnur für die Nevisivnsthütigkeit betont
hatte, mußte es den zahlreichen Elementen der deutschkvnservativen Partei,
welche so gern ihre Regierungsfähigkeit beweisen möchte, recht fatal sein, eben
jene „Grundlage" von einem der Ihrigen mit einem gewissen Fanatismus be¬
kämpft zu sehen. Man gab denn auch möglichst zu verstehen, daß Herr
v. Kleist einen tollen Ritt auf eigene Faust gemacht habe. In der That ent¬
fernte er sich ungleich weiter von dem Boden der bestehenden Verhältnisse, als
die geschworenen Feinde der gesammten heutigen Gesellschaftsordnung, welche
sonst die Conservativen mit den Liberalen zu der „einen reaktionären Masse"
zusammenwerfen. Der Antrag der Socialdemokraten ist durchaus diskutirbar;
seine unvermeidlichen Extravaganzen halten sich in bescheidenen Grenzen. Frei¬
lich erachteten die socialistischen Redner für nöthig, sich ausdrücklich dagegen zu
verwahren, als ob sie mit dieser „Rücksichtnahme auf gegebene Faktoren"
irgendwie ihren Idealen untreu geworden wären. Die liberalen Parteien be¬
fanden sich, soweit es sich um Präzisirung des allgemeinen Standpunktes han¬
delte, ans demselben Boden mit der Regierung. Auch sie sind, „an der Grund¬
lage der Gewerbeordnung, an dem Prinzip der Gewerbefreiheit festhaltend,
dazu bereit, die bessernde Hand überall da anzulegen, wo sich auf Grund der
bisher gemachten Erfahrungen ein Bedürfniß zur Aenderung herausgestellt
hat." In der diesmaligen allgemeinen Debatte waren sie indeß durch die An-


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[0198] Alle diese Anträge standen im Reichstage gleichzeitig zur Debatte. Daß dieselbe zu einem praktischen Resultate führen würde, hat Niemand erwartet; es konnte für die einzelnen Parteien immer nur darauf ankommen, ihre Stellung zu der Angelegenheit in das rechte Licht zu setzen. Der prinzipielle Gegensatz, welcher die Debatte durchzog, war die Frage: Gewerbefreiheit oder nicht? Von Seiten der Centrumspartei wurde rückhaltlos und entschieden die Umkehr von der gegenwärtigen Bahn gepredigt. Graf Galen züchtigte das Haus mit einer mystisch-philosophischen Betrachtung, die ein Witzbold des Foyers treffend be¬ zeichnete als die Offenbarung Johannis in parlamentarisches Deutsch übersetzt. Wie zwei verschiedene Welten — so charakterisirte Rickert den Unterschied ^ stehen sich das heute herrschende System und die ultramvnwne Weltanschauung gegenüber. Gerade weil mit der letzteren aber eine Verständigung von vorn¬ herein ausgeschlossen ist, hat sie sür die Diskussion der vorliegenden Fragen kaum eine praktische Bedeutung. Ungleich größere Beachtung verdient der Standpunkt, welchen Herr v. Kleist-Retzow entwickelte. Was er forderte, war die unverhüllte politische Reaktion auf der ganzen Linie. Seine Parteigenossen hatten diesmal keine rechte Freude an dem unverbesserlichen Heißsporn. Nach¬ dem der Präsident des Reichskanzleramts mit bemerkenswerthen Nachdruck das Festhalten an der Grundlage der bestehenden Gewerbeordnung, an dem Prinzip der Gelverbefreiheit, als die Richtschnur für die Nevisivnsthütigkeit betont hatte, mußte es den zahlreichen Elementen der deutschkvnservativen Partei, welche so gern ihre Regierungsfähigkeit beweisen möchte, recht fatal sein, eben jene „Grundlage" von einem der Ihrigen mit einem gewissen Fanatismus be¬ kämpft zu sehen. Man gab denn auch möglichst zu verstehen, daß Herr v. Kleist einen tollen Ritt auf eigene Faust gemacht habe. In der That ent¬ fernte er sich ungleich weiter von dem Boden der bestehenden Verhältnisse, als die geschworenen Feinde der gesammten heutigen Gesellschaftsordnung, welche sonst die Conservativen mit den Liberalen zu der „einen reaktionären Masse" zusammenwerfen. Der Antrag der Socialdemokraten ist durchaus diskutirbar; seine unvermeidlichen Extravaganzen halten sich in bescheidenen Grenzen. Frei¬ lich erachteten die socialistischen Redner für nöthig, sich ausdrücklich dagegen zu verwahren, als ob sie mit dieser „Rücksichtnahme auf gegebene Faktoren" irgendwie ihren Idealen untreu geworden wären. Die liberalen Parteien be¬ fanden sich, soweit es sich um Präzisirung des allgemeinen Standpunktes han¬ delte, ans demselben Boden mit der Regierung. Auch sie sind, „an der Grund¬ lage der Gewerbeordnung, an dem Prinzip der Gewerbefreiheit festhaltend, dazu bereit, die bessernde Hand überall da anzulegen, wo sich auf Grund der bisher gemachten Erfahrungen ein Bedürfniß zur Aenderung herausgestellt hat." In der diesmaligen allgemeinen Debatte waren sie indeß durch die An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/198>, abgerufen am 26.06.2024.