Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Staatsautorität gegenüber der Kurie bewies die Regierung in der Frage
der Wiederbesetzung des durch den Tod des Erzbischofs Vicari (16. April 1868)
erledigten erzbischöflichen Stuhles zu Freiburg Infolge dieser Festigkeit,
welche die personas minus grawe konsequent strich, ist der erzbischöfliche Stuhl
zur Stunde noch nicht definitiv besetzt, und es ist vom Jahr 1875 an die
Staatsdotation für denselben im Betrage von 13,400 si. in Wegfall gekommen.
Der Bisthumsverweser Kübel aber hatte bereits einige Male Gelegenheit, wegen
gesetzwidrigen Amtsverfahreus nähere Bekanntschaft mit dem Strafgesetzbuch zu
machen. Wie sehr die Regierung die hohe Bedeutung der Kirche für das
Volksleben schätzt, zeigt das sogenannte Pfarrdotationsgesetz vom 25. August
>876, welches das ungenügende Einkommen der Geistlichen aus Staatsmitteln
entsprechend erhöht, zunächst bis Ende 1881, nach Ablauf welches Termins
den Intentionen des Landtags gemäß die benöthigten Mittel durch Kirchen¬
steuer aufgebracht werden sollen.

"Auch auf anderen Gebieten des Staatslebens" sollte der Grundsatz einer
möglichst freien Entwickelung innerhalb der Schranken des Gesetzes verwirklicht
werden. Diese Verheißung der Osterproklamation von 1860 hat nicht ge¬
täuscht. Das Prinzip der Selbstverwaltung gelangte auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens zur Anwendung. Einführung der Gewerbefreiheit, neue
gesetzliche Regelung der Bestimmungen über Niederlassung und Aufenthalt, bür¬
gerliche Gleichstellung der Jsraeliten (4. Oktober 1862), Aufhebung einiger
Beschränkungen des Rechtes zur Verehelichung, diese und ähnliche Gesetze und
Organisationen öffneten der freien Entfaltung der Volkskräfte Bahn und Weg.
Revision der Gemeindeordnung in freiheitlichen Sinn, Neuordnung der öffent¬
lichen Armenpflege (Gesetz vom 5. Mai 1870), Kreirung der Stüdteordnung
(24. Juni 1874), vor allem aber die durch das Gesetz vom 5. Oktober 1863
in Allgriff genommene Reorganisation der inneren Verwaltung brachten gänzlich
neues Leben und lösten mehr und mehr ans den eng drückenden Fesseln der
Bureaukratie des Polizeistaats. Die polizeiliche Thätigkeit der Verwaltungs¬
behörden wurde gesetzlich geregelt und bestimmt. Der dem Amtsvorstand zur
Seite gegebene, auf Vorschlag der Kreisversammlung von dem Ministerium
des Innern ernannte Bezirksrath ist mit dem Amtsvorstand und unter dessen
Vorsitz beschließende Verwaltungsbehörde und erstinstcinzliches Verwaltungs¬
gericht. Den Kreisverbänden, elf an der Zahl, ist vor allem ein weites Gebiet
freiwilliger Thätigkeit für wirthschaftliche und humanitäre Zwecke zugetheilt,
sodann aber sind ihnen auch spezielle Aufgaben z. B. durch das Straßengesetz,
durch das Armengesetz (die Kreise sind Landarmeuverbände), auferlegt. Hier,
in der durchaus frei gewählten und frei beschließenden Kreisversammlung und
in der Amtsführung des von dieser Versammlung niedergesetzten Kreisausschusses


der Staatsautorität gegenüber der Kurie bewies die Regierung in der Frage
der Wiederbesetzung des durch den Tod des Erzbischofs Vicari (16. April 1868)
erledigten erzbischöflichen Stuhles zu Freiburg Infolge dieser Festigkeit,
welche die personas minus grawe konsequent strich, ist der erzbischöfliche Stuhl
zur Stunde noch nicht definitiv besetzt, und es ist vom Jahr 1875 an die
Staatsdotation für denselben im Betrage von 13,400 si. in Wegfall gekommen.
Der Bisthumsverweser Kübel aber hatte bereits einige Male Gelegenheit, wegen
gesetzwidrigen Amtsverfahreus nähere Bekanntschaft mit dem Strafgesetzbuch zu
machen. Wie sehr die Regierung die hohe Bedeutung der Kirche für das
Volksleben schätzt, zeigt das sogenannte Pfarrdotationsgesetz vom 25. August
>876, welches das ungenügende Einkommen der Geistlichen aus Staatsmitteln
entsprechend erhöht, zunächst bis Ende 1881, nach Ablauf welches Termins
den Intentionen des Landtags gemäß die benöthigten Mittel durch Kirchen¬
steuer aufgebracht werden sollen.

„Auch auf anderen Gebieten des Staatslebens" sollte der Grundsatz einer
möglichst freien Entwickelung innerhalb der Schranken des Gesetzes verwirklicht
werden. Diese Verheißung der Osterproklamation von 1860 hat nicht ge¬
täuscht. Das Prinzip der Selbstverwaltung gelangte auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens zur Anwendung. Einführung der Gewerbefreiheit, neue
gesetzliche Regelung der Bestimmungen über Niederlassung und Aufenthalt, bür¬
gerliche Gleichstellung der Jsraeliten (4. Oktober 1862), Aufhebung einiger
Beschränkungen des Rechtes zur Verehelichung, diese und ähnliche Gesetze und
Organisationen öffneten der freien Entfaltung der Volkskräfte Bahn und Weg.
Revision der Gemeindeordnung in freiheitlichen Sinn, Neuordnung der öffent¬
lichen Armenpflege (Gesetz vom 5. Mai 1870), Kreirung der Stüdteordnung
(24. Juni 1874), vor allem aber die durch das Gesetz vom 5. Oktober 1863
in Allgriff genommene Reorganisation der inneren Verwaltung brachten gänzlich
neues Leben und lösten mehr und mehr ans den eng drückenden Fesseln der
Bureaukratie des Polizeistaats. Die polizeiliche Thätigkeit der Verwaltungs¬
behörden wurde gesetzlich geregelt und bestimmt. Der dem Amtsvorstand zur
Seite gegebene, auf Vorschlag der Kreisversammlung von dem Ministerium
des Innern ernannte Bezirksrath ist mit dem Amtsvorstand und unter dessen
Vorsitz beschließende Verwaltungsbehörde und erstinstcinzliches Verwaltungs¬
gericht. Den Kreisverbänden, elf an der Zahl, ist vor allem ein weites Gebiet
freiwilliger Thätigkeit für wirthschaftliche und humanitäre Zwecke zugetheilt,
sodann aber sind ihnen auch spezielle Aufgaben z. B. durch das Straßengesetz,
durch das Armengesetz (die Kreise sind Landarmeuverbände), auferlegt. Hier,
in der durchaus frei gewählten und frei beschließenden Kreisversammlung und
in der Amtsführung des von dieser Versammlung niedergesetzten Kreisausschusses


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0177" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137878"/>
          <p xml:id="ID_456" prev="#ID_455"> der Staatsautorität gegenüber der Kurie bewies die Regierung in der Frage<lb/>
der Wiederbesetzung des durch den Tod des Erzbischofs Vicari (16. April 1868)<lb/>
erledigten erzbischöflichen Stuhles zu Freiburg Infolge dieser Festigkeit,<lb/>
welche die personas minus grawe konsequent strich, ist der erzbischöfliche Stuhl<lb/>
zur Stunde noch nicht definitiv besetzt, und es ist vom Jahr 1875 an die<lb/>
Staatsdotation für denselben im Betrage von 13,400 si. in Wegfall gekommen.<lb/>
Der Bisthumsverweser Kübel aber hatte bereits einige Male Gelegenheit, wegen<lb/>
gesetzwidrigen Amtsverfahreus nähere Bekanntschaft mit dem Strafgesetzbuch zu<lb/>
machen. Wie sehr die Regierung die hohe Bedeutung der Kirche für das<lb/>
Volksleben schätzt, zeigt das sogenannte Pfarrdotationsgesetz vom 25. August<lb/>
&gt;876, welches das ungenügende Einkommen der Geistlichen aus Staatsmitteln<lb/>
entsprechend erhöht, zunächst bis Ende 1881, nach Ablauf welches Termins<lb/>
den Intentionen des Landtags gemäß die benöthigten Mittel durch Kirchen¬<lb/>
steuer aufgebracht werden sollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_457" next="#ID_458"> &#x201E;Auch auf anderen Gebieten des Staatslebens" sollte der Grundsatz einer<lb/>
möglichst freien Entwickelung innerhalb der Schranken des Gesetzes verwirklicht<lb/>
werden. Diese Verheißung der Osterproklamation von 1860 hat nicht ge¬<lb/>
täuscht. Das Prinzip der Selbstverwaltung gelangte auf allen Gebieten des<lb/>
öffentlichen Lebens zur Anwendung. Einführung der Gewerbefreiheit, neue<lb/>
gesetzliche Regelung der Bestimmungen über Niederlassung und Aufenthalt, bür¬<lb/>
gerliche Gleichstellung der Jsraeliten (4. Oktober 1862), Aufhebung einiger<lb/>
Beschränkungen des Rechtes zur Verehelichung, diese und ähnliche Gesetze und<lb/>
Organisationen öffneten der freien Entfaltung der Volkskräfte Bahn und Weg.<lb/>
Revision der Gemeindeordnung in freiheitlichen Sinn, Neuordnung der öffent¬<lb/>
lichen Armenpflege (Gesetz vom 5. Mai 1870), Kreirung der Stüdteordnung<lb/>
(24. Juni 1874), vor allem aber die durch das Gesetz vom 5. Oktober 1863<lb/>
in Allgriff genommene Reorganisation der inneren Verwaltung brachten gänzlich<lb/>
neues Leben und lösten mehr und mehr ans den eng drückenden Fesseln der<lb/>
Bureaukratie des Polizeistaats. Die polizeiliche Thätigkeit der Verwaltungs¬<lb/>
behörden wurde gesetzlich geregelt und bestimmt. Der dem Amtsvorstand zur<lb/>
Seite gegebene, auf Vorschlag der Kreisversammlung von dem Ministerium<lb/>
des Innern ernannte Bezirksrath ist mit dem Amtsvorstand und unter dessen<lb/>
Vorsitz beschließende Verwaltungsbehörde und erstinstcinzliches Verwaltungs¬<lb/>
gericht. Den Kreisverbänden, elf an der Zahl, ist vor allem ein weites Gebiet<lb/>
freiwilliger Thätigkeit für wirthschaftliche und humanitäre Zwecke zugetheilt,<lb/>
sodann aber sind ihnen auch spezielle Aufgaben z. B. durch das Straßengesetz,<lb/>
durch das Armengesetz (die Kreise sind Landarmeuverbände), auferlegt. Hier,<lb/>
in der durchaus frei gewählten und frei beschließenden Kreisversammlung und<lb/>
in der Amtsführung des von dieser Versammlung niedergesetzten Kreisausschusses</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0177] der Staatsautorität gegenüber der Kurie bewies die Regierung in der Frage der Wiederbesetzung des durch den Tod des Erzbischofs Vicari (16. April 1868) erledigten erzbischöflichen Stuhles zu Freiburg Infolge dieser Festigkeit, welche die personas minus grawe konsequent strich, ist der erzbischöfliche Stuhl zur Stunde noch nicht definitiv besetzt, und es ist vom Jahr 1875 an die Staatsdotation für denselben im Betrage von 13,400 si. in Wegfall gekommen. Der Bisthumsverweser Kübel aber hatte bereits einige Male Gelegenheit, wegen gesetzwidrigen Amtsverfahreus nähere Bekanntschaft mit dem Strafgesetzbuch zu machen. Wie sehr die Regierung die hohe Bedeutung der Kirche für das Volksleben schätzt, zeigt das sogenannte Pfarrdotationsgesetz vom 25. August >876, welches das ungenügende Einkommen der Geistlichen aus Staatsmitteln entsprechend erhöht, zunächst bis Ende 1881, nach Ablauf welches Termins den Intentionen des Landtags gemäß die benöthigten Mittel durch Kirchen¬ steuer aufgebracht werden sollen. „Auch auf anderen Gebieten des Staatslebens" sollte der Grundsatz einer möglichst freien Entwickelung innerhalb der Schranken des Gesetzes verwirklicht werden. Diese Verheißung der Osterproklamation von 1860 hat nicht ge¬ täuscht. Das Prinzip der Selbstverwaltung gelangte auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zur Anwendung. Einführung der Gewerbefreiheit, neue gesetzliche Regelung der Bestimmungen über Niederlassung und Aufenthalt, bür¬ gerliche Gleichstellung der Jsraeliten (4. Oktober 1862), Aufhebung einiger Beschränkungen des Rechtes zur Verehelichung, diese und ähnliche Gesetze und Organisationen öffneten der freien Entfaltung der Volkskräfte Bahn und Weg. Revision der Gemeindeordnung in freiheitlichen Sinn, Neuordnung der öffent¬ lichen Armenpflege (Gesetz vom 5. Mai 1870), Kreirung der Stüdteordnung (24. Juni 1874), vor allem aber die durch das Gesetz vom 5. Oktober 1863 in Allgriff genommene Reorganisation der inneren Verwaltung brachten gänzlich neues Leben und lösten mehr und mehr ans den eng drückenden Fesseln der Bureaukratie des Polizeistaats. Die polizeiliche Thätigkeit der Verwaltungs¬ behörden wurde gesetzlich geregelt und bestimmt. Der dem Amtsvorstand zur Seite gegebene, auf Vorschlag der Kreisversammlung von dem Ministerium des Innern ernannte Bezirksrath ist mit dem Amtsvorstand und unter dessen Vorsitz beschließende Verwaltungsbehörde und erstinstcinzliches Verwaltungs¬ gericht. Den Kreisverbänden, elf an der Zahl, ist vor allem ein weites Gebiet freiwilliger Thätigkeit für wirthschaftliche und humanitäre Zwecke zugetheilt, sodann aber sind ihnen auch spezielle Aufgaben z. B. durch das Straßengesetz, durch das Armengesetz (die Kreise sind Landarmeuverbände), auferlegt. Hier, in der durchaus frei gewählten und frei beschließenden Kreisversammlung und in der Amtsführung des von dieser Versammlung niedergesetzten Kreisausschusses

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/177
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/177>, abgerufen am 03.07.2024.