Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wir wisse", daß England den Erwartungen des Czaren damals nicht
entsprach. Rußland versuchte sich von der Pforte ein ausschließliches Protectorat
über die orientalischen Christen und damit das Recht zur Intervention in die
inneren Angelegenheiten der Türkei zu verschaffen. Die Gefahr, die hierin lag,
bewog die Pforte zum Kriege gegen Rußland, und England und Frankreich
unterstützten sie dabei. Die Erfolge des Krimkrieges lagen in der Zurückweisung
jener Ansprüche Rußlands. Die Türkei sollte nach dem pariser Friedensver-
träge erhalten, ihre inneren Zustände sollten verbessert werden, nu die Stelle
des einseitigen Schutzrechts Rußlands in den Donaufürstenthümern und zu
Gunsten der orientalischen Christen sollte die Gesammtgarantie der europäischen
Mächte treten. Der pariser Vertrag hat factisch keine rechte Geltung mehr,
der Hatihumajum von 1856, der das Reformwerk im Innern der Türkei be¬
gann, ist in allem Wesentlichen unausgeführt geblieben. Man muß die Arbeit
unter veränderten Verhältnissen und mit erheblicher Modification von vorn
anfangen. Die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen, liegen hauptsächlich
in der Unfähigkeit und Indolenz der Pforte und in der Schwäche und Ver¬
kommenheit der muselmännischen wie der griechisch-slawischen Volkselemente,
für welche das neue Staatsgebäude aufgerichtet werden soll. Die letzten
zwanzig Jahre haben das bewiesen. Durch eigenen Antrieb und eigene Kraft
kann heute weder der Türke noch die Rajah sich zu einer höheren Cultur, zu
einem befriedigenden, haltbaren Gemeinwesen erheben. Einen verbesserten staws
que> in der Türkei herstellen, heißt daher nichts Anderes, als das heutige Os-
manenreich allmählig der Auflösung entgegenführen, und diese Arbeit ist im
Juteresse des Weltfriedens zu unternehmen, ob die türkischen Staatsmänner
wollen oder nicht. Der Fortbestand der Osmanenherrschaft in ihren bisherigen
Grenzen ist eine historische Unmöglichkeit, und das Interesse der europäischen
Großmächte an diesem Fortbestand kann nur ein temporäres und egoistisches sein.

Die Unabhängigkeit und Integrität des osmanischen Reiches soll erhalten
und gleichzeitig eine gründliche locale Reform in den insurrectionellen Pro¬
vinzen von der türkischen Regierung durchgeführt werden. Für beides wird
die Garantie der europäischen Großmächte verlangt. Das ist in der Kürze das
allgemeine Friedensprvgramm. Die Pforte hat seit 1856 so gut wie gar
nicht reformirt. "Die Gewalthaber in Stambul wußten stets mit diplomatischer
Geschicklichkeit sich der Verlegenheit des Moments zu entziehen und durch schöne
Worte und allgemeine Versprechungen den gerechten Zorn ihrer Feinde und
Freunde zu beschwichtigen. Mißwirthschast und Corruption, Brutalität und
Stumpfsinn blieben nach wie vor die kennzeichnenden Merkmale der türkischen
Verwaltung, und was die Hatihumajums und Fermane der Sultane von
Gleichberechtigung in religiöser und jndicieller Beziehung, von Einführung ge-


Wir wisse», daß England den Erwartungen des Czaren damals nicht
entsprach. Rußland versuchte sich von der Pforte ein ausschließliches Protectorat
über die orientalischen Christen und damit das Recht zur Intervention in die
inneren Angelegenheiten der Türkei zu verschaffen. Die Gefahr, die hierin lag,
bewog die Pforte zum Kriege gegen Rußland, und England und Frankreich
unterstützten sie dabei. Die Erfolge des Krimkrieges lagen in der Zurückweisung
jener Ansprüche Rußlands. Die Türkei sollte nach dem pariser Friedensver-
träge erhalten, ihre inneren Zustände sollten verbessert werden, nu die Stelle
des einseitigen Schutzrechts Rußlands in den Donaufürstenthümern und zu
Gunsten der orientalischen Christen sollte die Gesammtgarantie der europäischen
Mächte treten. Der pariser Vertrag hat factisch keine rechte Geltung mehr,
der Hatihumajum von 1856, der das Reformwerk im Innern der Türkei be¬
gann, ist in allem Wesentlichen unausgeführt geblieben. Man muß die Arbeit
unter veränderten Verhältnissen und mit erheblicher Modification von vorn
anfangen. Die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen, liegen hauptsächlich
in der Unfähigkeit und Indolenz der Pforte und in der Schwäche und Ver¬
kommenheit der muselmännischen wie der griechisch-slawischen Volkselemente,
für welche das neue Staatsgebäude aufgerichtet werden soll. Die letzten
zwanzig Jahre haben das bewiesen. Durch eigenen Antrieb und eigene Kraft
kann heute weder der Türke noch die Rajah sich zu einer höheren Cultur, zu
einem befriedigenden, haltbaren Gemeinwesen erheben. Einen verbesserten staws
que> in der Türkei herstellen, heißt daher nichts Anderes, als das heutige Os-
manenreich allmählig der Auflösung entgegenführen, und diese Arbeit ist im
Juteresse des Weltfriedens zu unternehmen, ob die türkischen Staatsmänner
wollen oder nicht. Der Fortbestand der Osmanenherrschaft in ihren bisherigen
Grenzen ist eine historische Unmöglichkeit, und das Interesse der europäischen
Großmächte an diesem Fortbestand kann nur ein temporäres und egoistisches sein.

Die Unabhängigkeit und Integrität des osmanischen Reiches soll erhalten
und gleichzeitig eine gründliche locale Reform in den insurrectionellen Pro¬
vinzen von der türkischen Regierung durchgeführt werden. Für beides wird
die Garantie der europäischen Großmächte verlangt. Das ist in der Kürze das
allgemeine Friedensprvgramm. Die Pforte hat seit 1856 so gut wie gar
nicht reformirt. „Die Gewalthaber in Stambul wußten stets mit diplomatischer
Geschicklichkeit sich der Verlegenheit des Moments zu entziehen und durch schöne
Worte und allgemeine Versprechungen den gerechten Zorn ihrer Feinde und
Freunde zu beschwichtigen. Mißwirthschast und Corruption, Brutalität und
Stumpfsinn blieben nach wie vor die kennzeichnenden Merkmale der türkischen
Verwaltung, und was die Hatihumajums und Fermane der Sultane von
Gleichberechtigung in religiöser und jndicieller Beziehung, von Einführung ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0067" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137240"/>
          <p xml:id="ID_266"> Wir wisse», daß England den Erwartungen des Czaren damals nicht<lb/>
entsprach. Rußland versuchte sich von der Pforte ein ausschließliches Protectorat<lb/>
über die orientalischen Christen und damit das Recht zur Intervention in die<lb/>
inneren Angelegenheiten der Türkei zu verschaffen. Die Gefahr, die hierin lag,<lb/>
bewog die Pforte zum Kriege gegen Rußland, und England und Frankreich<lb/>
unterstützten sie dabei. Die Erfolge des Krimkrieges lagen in der Zurückweisung<lb/>
jener Ansprüche Rußlands. Die Türkei sollte nach dem pariser Friedensver-<lb/>
träge erhalten, ihre inneren Zustände sollten verbessert werden, nu die Stelle<lb/>
des einseitigen Schutzrechts Rußlands in den Donaufürstenthümern und zu<lb/>
Gunsten der orientalischen Christen sollte die Gesammtgarantie der europäischen<lb/>
Mächte treten. Der pariser Vertrag hat factisch keine rechte Geltung mehr,<lb/>
der Hatihumajum von 1856, der das Reformwerk im Innern der Türkei be¬<lb/>
gann, ist in allem Wesentlichen unausgeführt geblieben. Man muß die Arbeit<lb/>
unter veränderten Verhältnissen und mit erheblicher Modification von vorn<lb/>
anfangen. Die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen, liegen hauptsächlich<lb/>
in der Unfähigkeit und Indolenz der Pforte und in der Schwäche und Ver¬<lb/>
kommenheit der muselmännischen wie der griechisch-slawischen Volkselemente,<lb/>
für welche das neue Staatsgebäude aufgerichtet werden soll. Die letzten<lb/>
zwanzig Jahre haben das bewiesen. Durch eigenen Antrieb und eigene Kraft<lb/>
kann heute weder der Türke noch die Rajah sich zu einer höheren Cultur, zu<lb/>
einem befriedigenden, haltbaren Gemeinwesen erheben. Einen verbesserten staws<lb/>
que&gt; in der Türkei herstellen, heißt daher nichts Anderes, als das heutige Os-<lb/>
manenreich allmählig der Auflösung entgegenführen, und diese Arbeit ist im<lb/>
Juteresse des Weltfriedens zu unternehmen, ob die türkischen Staatsmänner<lb/>
wollen oder nicht. Der Fortbestand der Osmanenherrschaft in ihren bisherigen<lb/>
Grenzen ist eine historische Unmöglichkeit, und das Interesse der europäischen<lb/>
Großmächte an diesem Fortbestand kann nur ein temporäres und egoistisches sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_267" next="#ID_268"> Die Unabhängigkeit und Integrität des osmanischen Reiches soll erhalten<lb/>
und gleichzeitig eine gründliche locale Reform in den insurrectionellen Pro¬<lb/>
vinzen von der türkischen Regierung durchgeführt werden. Für beides wird<lb/>
die Garantie der europäischen Großmächte verlangt. Das ist in der Kürze das<lb/>
allgemeine Friedensprvgramm. Die Pforte hat seit 1856 so gut wie gar<lb/>
nicht reformirt. &#x201E;Die Gewalthaber in Stambul wußten stets mit diplomatischer<lb/>
Geschicklichkeit sich der Verlegenheit des Moments zu entziehen und durch schöne<lb/>
Worte und allgemeine Versprechungen den gerechten Zorn ihrer Feinde und<lb/>
Freunde zu beschwichtigen. Mißwirthschast und Corruption, Brutalität und<lb/>
Stumpfsinn blieben nach wie vor die kennzeichnenden Merkmale der türkischen<lb/>
Verwaltung, und was die Hatihumajums und Fermane der Sultane von<lb/>
Gleichberechtigung in religiöser und jndicieller Beziehung, von Einführung ge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0067] Wir wisse», daß England den Erwartungen des Czaren damals nicht entsprach. Rußland versuchte sich von der Pforte ein ausschließliches Protectorat über die orientalischen Christen und damit das Recht zur Intervention in die inneren Angelegenheiten der Türkei zu verschaffen. Die Gefahr, die hierin lag, bewog die Pforte zum Kriege gegen Rußland, und England und Frankreich unterstützten sie dabei. Die Erfolge des Krimkrieges lagen in der Zurückweisung jener Ansprüche Rußlands. Die Türkei sollte nach dem pariser Friedensver- träge erhalten, ihre inneren Zustände sollten verbessert werden, nu die Stelle des einseitigen Schutzrechts Rußlands in den Donaufürstenthümern und zu Gunsten der orientalischen Christen sollte die Gesammtgarantie der europäischen Mächte treten. Der pariser Vertrag hat factisch keine rechte Geltung mehr, der Hatihumajum von 1856, der das Reformwerk im Innern der Türkei be¬ gann, ist in allem Wesentlichen unausgeführt geblieben. Man muß die Arbeit unter veränderten Verhältnissen und mit erheblicher Modification von vorn anfangen. Die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen, liegen hauptsächlich in der Unfähigkeit und Indolenz der Pforte und in der Schwäche und Ver¬ kommenheit der muselmännischen wie der griechisch-slawischen Volkselemente, für welche das neue Staatsgebäude aufgerichtet werden soll. Die letzten zwanzig Jahre haben das bewiesen. Durch eigenen Antrieb und eigene Kraft kann heute weder der Türke noch die Rajah sich zu einer höheren Cultur, zu einem befriedigenden, haltbaren Gemeinwesen erheben. Einen verbesserten staws que> in der Türkei herstellen, heißt daher nichts Anderes, als das heutige Os- manenreich allmählig der Auflösung entgegenführen, und diese Arbeit ist im Juteresse des Weltfriedens zu unternehmen, ob die türkischen Staatsmänner wollen oder nicht. Der Fortbestand der Osmanenherrschaft in ihren bisherigen Grenzen ist eine historische Unmöglichkeit, und das Interesse der europäischen Großmächte an diesem Fortbestand kann nur ein temporäres und egoistisches sein. Die Unabhängigkeit und Integrität des osmanischen Reiches soll erhalten und gleichzeitig eine gründliche locale Reform in den insurrectionellen Pro¬ vinzen von der türkischen Regierung durchgeführt werden. Für beides wird die Garantie der europäischen Großmächte verlangt. Das ist in der Kürze das allgemeine Friedensprvgramm. Die Pforte hat seit 1856 so gut wie gar nicht reformirt. „Die Gewalthaber in Stambul wußten stets mit diplomatischer Geschicklichkeit sich der Verlegenheit des Moments zu entziehen und durch schöne Worte und allgemeine Versprechungen den gerechten Zorn ihrer Feinde und Freunde zu beschwichtigen. Mißwirthschast und Corruption, Brutalität und Stumpfsinn blieben nach wie vor die kennzeichnenden Merkmale der türkischen Verwaltung, und was die Hatihumajums und Fermane der Sultane von Gleichberechtigung in religiöser und jndicieller Beziehung, von Einführung ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/67
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/67>, abgerufen am 23.07.2024.