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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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lichen Zerfall des Osmcmenreiches, sei es durch auswärtige Bedrohung, sei
es durch innere Unruhen, vorgebeugt und dem weiteren Vordringen Rußlands
im Südosten Europas Einhalt gethan werde. Sein Programm muß die Be¬
gründung eines verbesserten Uebergangs-Zustandes in den slavisch¬
türkischen Ländern sein. Das ist der Grundgedanke der obengenannten Flug¬
schrift, deren Verfasser, wie uus scheint, in unterrichteten Kreisen verkehrt, und
von deren Inhalt wir im Folgenden eine Analyse geben.

"Glauben Sie, wir haben einen kranken Menschen auf dem Arme, einen
sehr kranken Menschen", sagte zu Anfang des Jahres 1853 Kaiser Nikolaus
zu dem englischen Botschafter Seymour. "Es wäre ein großes Unglück, wenn
er uns eines Tages entfallen sollte, ehe alle nothwendigen Vorkehrungen ge¬
troffen wären. Was todt ist, können wir nicht wieder erwecken, und wenn
das türkische Reich fällt, so fällt es, um uicht wieder zu erstehen. Es ist ein
Ding, welches man wohl dulden, aber nicht wieder aufbauen darf. Wenn es
gelingt, daß wir, England und ich, uns über diese Sache verstündigen, so ist
an dem Uebrigen wenig gelegen." Und nun folgte eine Herzensergießung des
Czaren über die Eventualitäten, die sich bei einem Zerfalle der Türkei ergeben,
und über die Vertheilung der Rollen und der Erbschaft zwischen den beiden
Hauptmächten Rußland und England. "Die Donaufürstenthümer", sagte
Nikolaus, "sind in der That ein unabhängiger Staat unter meinem Schutze.
Dieß könnte so bleiben. Serbien könnte dieselbe Regierungsform erhalten,
anch Bulgarien, und es scheint kein Grund vorhanden, weshalb diese Provinz
nicht einen unabhängigen Staat bilden sollte. Was Aegypten betrifft, so be¬
greife ich die Wichtigkeit dieses Gebietes für England vollkommen. Ich kann
daher nur sagen, daß, wenn Sie bei einer Theilung des osmanischen Reiches,
die mit dem Falle desselben einträte, von Aegypten Besitz nähmen, ich nichts
dagegen haben würde. Ich sage Dasselbe von Candia, diese Insel paßt Ihnen."
Was Konstantinopel beträfe, fuhr der Kaiser fort, so werde er nie dulden, daß
England oder eine andere europäische Großmacht sich dort festsetze. Auch er
sei geneigt, sich zu verpflichten, dieß nicht zu thun -- "wohlverstanden als
Eigenthümer; denn als Pfandhaber, das will ich nicht verneinen. Es könnte
geschehen, daß die Umstände mich in den Fall brächten, Konstantinopel zu be¬
setzen, wenn man Alles nach dem Zufall gehen läßt." Als Seymour äußerte,
daß diese Fragen doch anch Oesterreich nahe angingen und es dabei zu Rathe
gezogen zu werden erwarten würde, erwiderte der Kaiser: "O, Sie müssen
wissen, wenn ich von Rußland spreche, so spreche ich ebenso gut von Oester¬
reich, was dem einen ansteht, steht auch dem andern an. Unsere Interessen
hinsichtlich der Türkei sind vollkommen identisch."


lichen Zerfall des Osmcmenreiches, sei es durch auswärtige Bedrohung, sei
es durch innere Unruhen, vorgebeugt und dem weiteren Vordringen Rußlands
im Südosten Europas Einhalt gethan werde. Sein Programm muß die Be¬
gründung eines verbesserten Uebergangs-Zustandes in den slavisch¬
türkischen Ländern sein. Das ist der Grundgedanke der obengenannten Flug¬
schrift, deren Verfasser, wie uus scheint, in unterrichteten Kreisen verkehrt, und
von deren Inhalt wir im Folgenden eine Analyse geben.

„Glauben Sie, wir haben einen kranken Menschen auf dem Arme, einen
sehr kranken Menschen", sagte zu Anfang des Jahres 1853 Kaiser Nikolaus
zu dem englischen Botschafter Seymour. „Es wäre ein großes Unglück, wenn
er uns eines Tages entfallen sollte, ehe alle nothwendigen Vorkehrungen ge¬
troffen wären. Was todt ist, können wir nicht wieder erwecken, und wenn
das türkische Reich fällt, so fällt es, um uicht wieder zu erstehen. Es ist ein
Ding, welches man wohl dulden, aber nicht wieder aufbauen darf. Wenn es
gelingt, daß wir, England und ich, uns über diese Sache verstündigen, so ist
an dem Uebrigen wenig gelegen." Und nun folgte eine Herzensergießung des
Czaren über die Eventualitäten, die sich bei einem Zerfalle der Türkei ergeben,
und über die Vertheilung der Rollen und der Erbschaft zwischen den beiden
Hauptmächten Rußland und England. „Die Donaufürstenthümer", sagte
Nikolaus, „sind in der That ein unabhängiger Staat unter meinem Schutze.
Dieß könnte so bleiben. Serbien könnte dieselbe Regierungsform erhalten,
anch Bulgarien, und es scheint kein Grund vorhanden, weshalb diese Provinz
nicht einen unabhängigen Staat bilden sollte. Was Aegypten betrifft, so be¬
greife ich die Wichtigkeit dieses Gebietes für England vollkommen. Ich kann
daher nur sagen, daß, wenn Sie bei einer Theilung des osmanischen Reiches,
die mit dem Falle desselben einträte, von Aegypten Besitz nähmen, ich nichts
dagegen haben würde. Ich sage Dasselbe von Candia, diese Insel paßt Ihnen."
Was Konstantinopel beträfe, fuhr der Kaiser fort, so werde er nie dulden, daß
England oder eine andere europäische Großmacht sich dort festsetze. Auch er
sei geneigt, sich zu verpflichten, dieß nicht zu thun — „wohlverstanden als
Eigenthümer; denn als Pfandhaber, das will ich nicht verneinen. Es könnte
geschehen, daß die Umstände mich in den Fall brächten, Konstantinopel zu be¬
setzen, wenn man Alles nach dem Zufall gehen läßt." Als Seymour äußerte,
daß diese Fragen doch anch Oesterreich nahe angingen und es dabei zu Rathe
gezogen zu werden erwarten würde, erwiderte der Kaiser: „O, Sie müssen
wissen, wenn ich von Rußland spreche, so spreche ich ebenso gut von Oester¬
reich, was dem einen ansteht, steht auch dem andern an. Unsere Interessen
hinsichtlich der Türkei sind vollkommen identisch."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/66>, abgerufen am 23.07.2024.