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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Zeuge meines Lasters. -- Ich wandle fort im Schrecken. Ein Schauer be¬
fällt mich. Alles schläft, nur ich bin wach. Dort schläft der arme Greis in
den Armen der Sicherheit. Die Liebe für feinen Sohn hält ihn noch in diesen
lasterhafte" Mauern zurück. Armer Vater, schon ist der Dolch auf Deine
Brust gezückt. -- Aber welches Recht habe ich auf fein Leben? foll ich mein
Glück mit feinem Blute erkaufen? Der schlaueste Geist fordert diese That.
Ich darf nicht klügeln. Ich eile, ich fliege. -- Welche Angst lahmt meine
Schritte? Meine ganze Natur empört sich. Ich bin uoch ein Neuling in
dieser Mörderkunst. Mein Blut wallt, siedet. -- Ha, wer begegnet mir? --
Er ist es. Zurück! Stirb! -- Er streckt seine segnende Hand aus. Seine
Thränen fließen über mich. Seine grauen Haare breiten sich über meine Hände.
-- Flieh, Vater, entreiß Dich meinem Stahle! Wer kommt? Ich bebe." Es
ist Mephistopheles, der sie nnter Drohungen antreibt, sich mit der That zu
beeilen. Die letzte Stunde des Bundes zwischen ihm und Faust sei erschienen,
sagt er, und noch könne sie ihren Geliebten retten, wenn sie Theodor durchbohre.
"Was zauderst Du, Helena?" fährt er fort. "Dein Schlachtopfer ist reif zum
Tode. Seine wankenden Knochen sind am Rande des Grabes. Stirbt der zu
früh, der nur im Elend herumkriecht? Geh, zaudere nicht länger, jede Minute
wiegt Gold." Helena stürzt mit den Worten: "Die Hölle siegt" fort, hält an
der Kammerthür noch einmal an und eilt dann hinein. Mephistopheles tri-
umphirt: "Ha, ha, ha! getäuschte Sterbliche! So fallt Ihr in unsere Fallstricke,
Ihr seid unser Spielwerk. Du Donnerer, sieh herab auf die Erde, nicht Du,
wir herrschen hier. Uns betet Dein Liebling, der Mensch an. Unsere Altäre
rauchen öfterer als die Deinigen. Die Hölle, die Du uns zum Exil geöffnet
hast, ist das Gefängniß Deiner Meuschen." Im dritten Austritt belauscht
Mephistopheles Faust bei seinem letzten Selbstgespräch. "Das Zeichen zum
schleunigen Aufbruch wird gegeben", sagt der Verzweifelnde. "Ich blicke mit
Zittern über die kleine Frist des Lebens hinüber. Wo eile ich hin? In eine
fürchterliche Ewigkeit. Die flüchtige Lebensuhr ist bereits abgelaufen. O un¬
widerruflicher Flug der kostbaren Zeit, kehre wieder! -- Des Mondes düstrer
Schein ist rings um mich. Die Nacht breitet ihre schwarzen Flügel über diese
traurigen Gemächer. O letzte Stunde, sei Zeuge meiner Sorgen und meiner
Thränen. Letzte Quelle eines reuigen Herzens, Du bist mir der einzige Trost
geworden. Fließet, Thränen, vielleicht verlöschet ihr meine Thorheiten. Nein,
sie sind mit einem Eisengriffel in das Buch des Gedächtnisses gegraben. Das
Echo meiner Schande wird noch leben, wenn kein Stäubchen vou diesem Körper
mehr sein wird. Ich habe die himmlische Erstgeburt um irdische Freuden ver¬
kauft. O Gedanke, der mich niederdonnert! Mein Gewissen sitzt schon
fürchterlich zu Gerichte und kündigt mir deu ewigen Tod an. Die letzten Mi-


Zeuge meines Lasters. — Ich wandle fort im Schrecken. Ein Schauer be¬
fällt mich. Alles schläft, nur ich bin wach. Dort schläft der arme Greis in
den Armen der Sicherheit. Die Liebe für feinen Sohn hält ihn noch in diesen
lasterhafte» Mauern zurück. Armer Vater, schon ist der Dolch auf Deine
Brust gezückt. — Aber welches Recht habe ich auf fein Leben? foll ich mein
Glück mit feinem Blute erkaufen? Der schlaueste Geist fordert diese That.
Ich darf nicht klügeln. Ich eile, ich fliege. — Welche Angst lahmt meine
Schritte? Meine ganze Natur empört sich. Ich bin uoch ein Neuling in
dieser Mörderkunst. Mein Blut wallt, siedet. — Ha, wer begegnet mir? —
Er ist es. Zurück! Stirb! — Er streckt seine segnende Hand aus. Seine
Thränen fließen über mich. Seine grauen Haare breiten sich über meine Hände.
— Flieh, Vater, entreiß Dich meinem Stahle! Wer kommt? Ich bebe." Es
ist Mephistopheles, der sie nnter Drohungen antreibt, sich mit der That zu
beeilen. Die letzte Stunde des Bundes zwischen ihm und Faust sei erschienen,
sagt er, und noch könne sie ihren Geliebten retten, wenn sie Theodor durchbohre.
„Was zauderst Du, Helena?" fährt er fort. „Dein Schlachtopfer ist reif zum
Tode. Seine wankenden Knochen sind am Rande des Grabes. Stirbt der zu
früh, der nur im Elend herumkriecht? Geh, zaudere nicht länger, jede Minute
wiegt Gold." Helena stürzt mit den Worten: „Die Hölle siegt" fort, hält an
der Kammerthür noch einmal an und eilt dann hinein. Mephistopheles tri-
umphirt: „Ha, ha, ha! getäuschte Sterbliche! So fallt Ihr in unsere Fallstricke,
Ihr seid unser Spielwerk. Du Donnerer, sieh herab auf die Erde, nicht Du,
wir herrschen hier. Uns betet Dein Liebling, der Mensch an. Unsere Altäre
rauchen öfterer als die Deinigen. Die Hölle, die Du uns zum Exil geöffnet
hast, ist das Gefängniß Deiner Meuschen." Im dritten Austritt belauscht
Mephistopheles Faust bei seinem letzten Selbstgespräch. „Das Zeichen zum
schleunigen Aufbruch wird gegeben", sagt der Verzweifelnde. „Ich blicke mit
Zittern über die kleine Frist des Lebens hinüber. Wo eile ich hin? In eine
fürchterliche Ewigkeit. Die flüchtige Lebensuhr ist bereits abgelaufen. O un¬
widerruflicher Flug der kostbaren Zeit, kehre wieder! — Des Mondes düstrer
Schein ist rings um mich. Die Nacht breitet ihre schwarzen Flügel über diese
traurigen Gemächer. O letzte Stunde, sei Zeuge meiner Sorgen und meiner
Thränen. Letzte Quelle eines reuigen Herzens, Du bist mir der einzige Trost
geworden. Fließet, Thränen, vielleicht verlöschet ihr meine Thorheiten. Nein,
sie sind mit einem Eisengriffel in das Buch des Gedächtnisses gegraben. Das
Echo meiner Schande wird noch leben, wenn kein Stäubchen vou diesem Körper
mehr sein wird. Ich habe die himmlische Erstgeburt um irdische Freuden ver¬
kauft. O Gedanke, der mich niederdonnert! Mein Gewissen sitzt schon
fürchterlich zu Gerichte und kündigt mir deu ewigen Tod an. Die letzten Mi-


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[0463] Zeuge meines Lasters. — Ich wandle fort im Schrecken. Ein Schauer be¬ fällt mich. Alles schläft, nur ich bin wach. Dort schläft der arme Greis in den Armen der Sicherheit. Die Liebe für feinen Sohn hält ihn noch in diesen lasterhafte» Mauern zurück. Armer Vater, schon ist der Dolch auf Deine Brust gezückt. — Aber welches Recht habe ich auf fein Leben? foll ich mein Glück mit feinem Blute erkaufen? Der schlaueste Geist fordert diese That. Ich darf nicht klügeln. Ich eile, ich fliege. — Welche Angst lahmt meine Schritte? Meine ganze Natur empört sich. Ich bin uoch ein Neuling in dieser Mörderkunst. Mein Blut wallt, siedet. — Ha, wer begegnet mir? — Er ist es. Zurück! Stirb! — Er streckt seine segnende Hand aus. Seine Thränen fließen über mich. Seine grauen Haare breiten sich über meine Hände. — Flieh, Vater, entreiß Dich meinem Stahle! Wer kommt? Ich bebe." Es ist Mephistopheles, der sie nnter Drohungen antreibt, sich mit der That zu beeilen. Die letzte Stunde des Bundes zwischen ihm und Faust sei erschienen, sagt er, und noch könne sie ihren Geliebten retten, wenn sie Theodor durchbohre. „Was zauderst Du, Helena?" fährt er fort. „Dein Schlachtopfer ist reif zum Tode. Seine wankenden Knochen sind am Rande des Grabes. Stirbt der zu früh, der nur im Elend herumkriecht? Geh, zaudere nicht länger, jede Minute wiegt Gold." Helena stürzt mit den Worten: „Die Hölle siegt" fort, hält an der Kammerthür noch einmal an und eilt dann hinein. Mephistopheles tri- umphirt: „Ha, ha, ha! getäuschte Sterbliche! So fallt Ihr in unsere Fallstricke, Ihr seid unser Spielwerk. Du Donnerer, sieh herab auf die Erde, nicht Du, wir herrschen hier. Uns betet Dein Liebling, der Mensch an. Unsere Altäre rauchen öfterer als die Deinigen. Die Hölle, die Du uns zum Exil geöffnet hast, ist das Gefängniß Deiner Meuschen." Im dritten Austritt belauscht Mephistopheles Faust bei seinem letzten Selbstgespräch. „Das Zeichen zum schleunigen Aufbruch wird gegeben", sagt der Verzweifelnde. „Ich blicke mit Zittern über die kleine Frist des Lebens hinüber. Wo eile ich hin? In eine fürchterliche Ewigkeit. Die flüchtige Lebensuhr ist bereits abgelaufen. O un¬ widerruflicher Flug der kostbaren Zeit, kehre wieder! — Des Mondes düstrer Schein ist rings um mich. Die Nacht breitet ihre schwarzen Flügel über diese traurigen Gemächer. O letzte Stunde, sei Zeuge meiner Sorgen und meiner Thränen. Letzte Quelle eines reuigen Herzens, Du bist mir der einzige Trost geworden. Fließet, Thränen, vielleicht verlöschet ihr meine Thorheiten. Nein, sie sind mit einem Eisengriffel in das Buch des Gedächtnisses gegraben. Das Echo meiner Schande wird noch leben, wenn kein Stäubchen vou diesem Körper mehr sein wird. Ich habe die himmlische Erstgeburt um irdische Freuden ver¬ kauft. O Gedanke, der mich niederdonnert! Mein Gewissen sitzt schon fürchterlich zu Gerichte und kündigt mir deu ewigen Tod an. Die letzten Mi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/463>, abgerufen am 22.06.2024.