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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Nationalliberale, Fortschrittspartei, Gruppe Löwe, süddeutsche Volkspartei,
Elsässer, Sozialdemokraten und Wilde, also nicht weniger als sieben Species.
Dem gegenüber zeigen sich ans der Rechten, vom Centrum und seinem polni¬
schen Annex abgesehen, uur zwei Fraktion en, die "Deutsche Reichspartei" und
die "Deutschen Conservativen", und die letzteren scheinen sogar von der Mög¬
lichkeit zu träumen, die beiden Fraktionen zu einer einzigen conservativen Partei
zu verschmelzen.

Man hat angesichts dieser Zusammensetzung dem neuen Reichstage kein
langes Leben prophezeihen wollen. Die Thronrede ist anderer Meinung.
Gerade mit Bezug aus die Zusammensetzung spricht sie die Hoffnung aus, "daß
es auch in dieser Periode, wie in den beiden vorhergegangenen, gelingen wird,
die wichtigen Aufgaben, welche dem Reichstag gestellt sind, im Einverständniß
zwischen den verbündeten Regierungen und der Volksvertretung zum Wohl
der Nation in Erledigung zu bringen." Als der zweite deutsche Reichstag ge¬
wählt war, wurde die Zuversicht zu einem ersprießlichen Fortgang der Reichs¬
gesetzgebung hauptsächlich auf die Annahme begründet, daß die nationalliberale
Partei im Vereine mit der Fortschrittspartei und der freiconservativen Reichs¬
partei eine ziemlich sichere Majorität bilde. Diese Annahme hat sich gerade
in den wichtigsten Fragen nicht bewährt; namentlich bei dem Militärgesetz und
den Juskizgesetzen trennte sich das Gros der Fortschrittspartei unter Absonde¬
rung der Gruppe Löwe von der reichsfreundlichen Koalition, und nur die
Hülfe der Alteouservativen sicherte die erforderliche Majorität. Nach dein
jüngsten Gebahren der Fortschrittspartei ist nicht anzunehmen, daß sie in der
neuen Legislaturperiode eine positivere und praktischere Politik befolgen werde;
im Gegentheil! Nationalliberale, Gruppe Löwe und Reichspartei, welche zu-
sammengenonuneu bisher nahezu über die Majorität verfügte", bleiben, infolge
der Schwächung der nativnalliberalen Partei, jetzt weit hinter der früheren
Gesammtstärke zurück. Die Thronrede kann also jene Hoffnung nur auf Grund
der Annahme ausgesprochen haben, daß die erhebliche Verstärkung der bisherigen
Altconservativen oder Conservativen schlechtweg diese Fraktion zu einer desto
festeren Stütze der Regiernugspvlitik gemacht habe. Ueber die Berechtigung
dieser Annahme ist ein abschließendes Urtheil im Angenblick noch nicht zu
fällen. Wer die sogenannte dentscheonservative Bewegung verfolgt hat, wird
sich bescheidener Zweifel nicht entschlagen können. Das Programm derselben
gewährt nicht allein dem Partikularismus eine bedenkliche Latitüde, es macht
auch Front gegen die herrschende Kirchenpolitik Preußens und des Reichs, in¬
dem es indirekt, die Maigesetze für einen unberechtigten Eingriff in das innere
kirchliche Gebiet erklärt. Deutlicher noch aber als das Programm reden ge-


Nationalliberale, Fortschrittspartei, Gruppe Löwe, süddeutsche Volkspartei,
Elsässer, Sozialdemokraten und Wilde, also nicht weniger als sieben Species.
Dem gegenüber zeigen sich ans der Rechten, vom Centrum und seinem polni¬
schen Annex abgesehen, uur zwei Fraktion en, die „Deutsche Reichspartei" und
die „Deutschen Conservativen", und die letzteren scheinen sogar von der Mög¬
lichkeit zu träumen, die beiden Fraktionen zu einer einzigen conservativen Partei
zu verschmelzen.

Man hat angesichts dieser Zusammensetzung dem neuen Reichstage kein
langes Leben prophezeihen wollen. Die Thronrede ist anderer Meinung.
Gerade mit Bezug aus die Zusammensetzung spricht sie die Hoffnung aus, „daß
es auch in dieser Periode, wie in den beiden vorhergegangenen, gelingen wird,
die wichtigen Aufgaben, welche dem Reichstag gestellt sind, im Einverständniß
zwischen den verbündeten Regierungen und der Volksvertretung zum Wohl
der Nation in Erledigung zu bringen." Als der zweite deutsche Reichstag ge¬
wählt war, wurde die Zuversicht zu einem ersprießlichen Fortgang der Reichs¬
gesetzgebung hauptsächlich auf die Annahme begründet, daß die nationalliberale
Partei im Vereine mit der Fortschrittspartei und der freiconservativen Reichs¬
partei eine ziemlich sichere Majorität bilde. Diese Annahme hat sich gerade
in den wichtigsten Fragen nicht bewährt; namentlich bei dem Militärgesetz und
den Juskizgesetzen trennte sich das Gros der Fortschrittspartei unter Absonde¬
rung der Gruppe Löwe von der reichsfreundlichen Koalition, und nur die
Hülfe der Alteouservativen sicherte die erforderliche Majorität. Nach dein
jüngsten Gebahren der Fortschrittspartei ist nicht anzunehmen, daß sie in der
neuen Legislaturperiode eine positivere und praktischere Politik befolgen werde;
im Gegentheil! Nationalliberale, Gruppe Löwe und Reichspartei, welche zu-
sammengenonuneu bisher nahezu über die Majorität verfügte«, bleiben, infolge
der Schwächung der nativnalliberalen Partei, jetzt weit hinter der früheren
Gesammtstärke zurück. Die Thronrede kann also jene Hoffnung nur auf Grund
der Annahme ausgesprochen haben, daß die erhebliche Verstärkung der bisherigen
Altconservativen oder Conservativen schlechtweg diese Fraktion zu einer desto
festeren Stütze der Regiernugspvlitik gemacht habe. Ueber die Berechtigung
dieser Annahme ist ein abschließendes Urtheil im Angenblick noch nicht zu
fällen. Wer die sogenannte dentscheonservative Bewegung verfolgt hat, wird
sich bescheidener Zweifel nicht entschlagen können. Das Programm derselben
gewährt nicht allein dem Partikularismus eine bedenkliche Latitüde, es macht
auch Front gegen die herrschende Kirchenpolitik Preußens und des Reichs, in¬
dem es indirekt, die Maigesetze für einen unberechtigten Eingriff in das innere
kirchliche Gebiet erklärt. Deutlicher noch aber als das Programm reden ge-


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[0399] Nationalliberale, Fortschrittspartei, Gruppe Löwe, süddeutsche Volkspartei, Elsässer, Sozialdemokraten und Wilde, also nicht weniger als sieben Species. Dem gegenüber zeigen sich ans der Rechten, vom Centrum und seinem polni¬ schen Annex abgesehen, uur zwei Fraktion en, die „Deutsche Reichspartei" und die „Deutschen Conservativen", und die letzteren scheinen sogar von der Mög¬ lichkeit zu träumen, die beiden Fraktionen zu einer einzigen conservativen Partei zu verschmelzen. Man hat angesichts dieser Zusammensetzung dem neuen Reichstage kein langes Leben prophezeihen wollen. Die Thronrede ist anderer Meinung. Gerade mit Bezug aus die Zusammensetzung spricht sie die Hoffnung aus, „daß es auch in dieser Periode, wie in den beiden vorhergegangenen, gelingen wird, die wichtigen Aufgaben, welche dem Reichstag gestellt sind, im Einverständniß zwischen den verbündeten Regierungen und der Volksvertretung zum Wohl der Nation in Erledigung zu bringen." Als der zweite deutsche Reichstag ge¬ wählt war, wurde die Zuversicht zu einem ersprießlichen Fortgang der Reichs¬ gesetzgebung hauptsächlich auf die Annahme begründet, daß die nationalliberale Partei im Vereine mit der Fortschrittspartei und der freiconservativen Reichs¬ partei eine ziemlich sichere Majorität bilde. Diese Annahme hat sich gerade in den wichtigsten Fragen nicht bewährt; namentlich bei dem Militärgesetz und den Juskizgesetzen trennte sich das Gros der Fortschrittspartei unter Absonde¬ rung der Gruppe Löwe von der reichsfreundlichen Koalition, und nur die Hülfe der Alteouservativen sicherte die erforderliche Majorität. Nach dein jüngsten Gebahren der Fortschrittspartei ist nicht anzunehmen, daß sie in der neuen Legislaturperiode eine positivere und praktischere Politik befolgen werde; im Gegentheil! Nationalliberale, Gruppe Löwe und Reichspartei, welche zu- sammengenonuneu bisher nahezu über die Majorität verfügte«, bleiben, infolge der Schwächung der nativnalliberalen Partei, jetzt weit hinter der früheren Gesammtstärke zurück. Die Thronrede kann also jene Hoffnung nur auf Grund der Annahme ausgesprochen haben, daß die erhebliche Verstärkung der bisherigen Altconservativen oder Conservativen schlechtweg diese Fraktion zu einer desto festeren Stütze der Regiernugspvlitik gemacht habe. Ueber die Berechtigung dieser Annahme ist ein abschließendes Urtheil im Angenblick noch nicht zu fällen. Wer die sogenannte dentscheonservative Bewegung verfolgt hat, wird sich bescheidener Zweifel nicht entschlagen können. Das Programm derselben gewährt nicht allein dem Partikularismus eine bedenkliche Latitüde, es macht auch Front gegen die herrschende Kirchenpolitik Preußens und des Reichs, in¬ dem es indirekt, die Maigesetze für einen unberechtigten Eingriff in das innere kirchliche Gebiet erklärt. Deutlicher noch aber als das Programm reden ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/399>, abgerufen am 03.07.2024.