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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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dem die prächtige Straße ütier den Sielvion existirt, hat er diese Bedeutung
verloren. Voll österreichischer Seite wird er sogar mit entschiedener Mißgunst
behandelt: die von Zerez über Se. Maria führende Poststraße bricht an der
Grenze ab, und alle Bemühungen von schweizerischer Seite, die Tiroler zum
Weiterbau derselben nach Mals zu bestimmen, um so eine bequeme Verbin¬
dung zwischeu dem Oberengadin und dem Etschthal herzustellen, sind bis jetzt
gescheitert. Der Saumpfad über das Wormser Joch aber wird von schwei¬
zerischer Seite noch ziemlich lebhaft benutzt. Da kauu mau deun noch hent-
zutage das seltsame Schauspiel mit ansehen, wie auf einem Wege, den der Be-
wohner der Ebene für halsbrecherisch anzusehen geneigt ist, das geduldige
Saumthier sicheren Schrittes den edeln Veltliner auf höchst primitive" Fahr¬
zeugen über die Alpen befördert.

Für einen sonnenklaren Oktobernachmittag ist es eine herrliche Wanderung
uach dein Wormser Joch hinauf. Geraume Zeit schlängelt sich der Weg durch
prächtigen Wald, schäumende Bäche rauschen hernieder, ab und zu wird noch
eine weidende Ziege sichtbar oder wenigstens hörbar mit ihrem silberhellen
Glöcklein. Dann schwindet der Baumwuchs und die Weidealp beginnt. Eine
fast unheimliche Stille liegt über dem gelblich grünen Plan. Die Sennhütten
sind verlassen, der schmucken Heerden vielstimmiges Geläute ist verstummt.
Die Steigung wird steiler; der herbstlichen Kühle zum Trotz rinnen die dicken
Schweißtropfen von der Stirne. Plötzlich wird es lebendig: ein weiubeladener
Schlitten kommt in Sicht. Wehmnthvollen Blickes betrachtest du die festver-
spuudeteu Fässer; denn die Zunge klebt dir am Gaumen und das Schnee-
wasser, das hie und da in den Ruusen niederquillt, löscht den Durst nnr,
damit er bald darauf um so lästiger brenne. Rasch zieht die kleine Karawane
vorüber. Wiederum vollendetes Schweigen. Später kommeu ein paar schwarze
Gesellen, italienische Arbeiter, die in die Heimath zurückkehren, vielleicht auch
Schmuggler, jedenfalls eine unholde Gesellschaft. Nun wandelst Du im Schnee,
der Anfangs spärlich, dann immer dichter den Boden deckt, so daß Dir die
Spur des Weges verloren geht. Kurz, die Fahrt ist nicht gerade gemüthlich
zu nennen. Dennoch hat sie einen eigenen Reiz. Ans der Höhe des Jochs
augelangt, breitet sich rings um Dich öde Winterlandschaft; vor Dir die nack¬
ten schwarzen Wände des Branlivkessels, darüber der glänzende Firn des
Monte Cristallo; rechts der schneebedeckte Rücken des Piz Umbrail, links der
des Monte Pressura; Du selbst stehst bis an die Knöchel im Schnee. Aber
kein packenderer Contrast ist denkbar, als wenn der rückwärts gewandte Blick
über die Wälder des Münsterthals hinstreift, deren herbstliche Farbenpracht die
Strahlen der Abendsonne vergolden. Schon schleicht des Mondes bleiche Sichel
über den Christallo, ehe Du Dich entschließen magst, von diesem Bilde Ab-


dem die prächtige Straße ütier den Sielvion existirt, hat er diese Bedeutung
verloren. Voll österreichischer Seite wird er sogar mit entschiedener Mißgunst
behandelt: die von Zerez über Se. Maria führende Poststraße bricht an der
Grenze ab, und alle Bemühungen von schweizerischer Seite, die Tiroler zum
Weiterbau derselben nach Mals zu bestimmen, um so eine bequeme Verbin¬
dung zwischeu dem Oberengadin und dem Etschthal herzustellen, sind bis jetzt
gescheitert. Der Saumpfad über das Wormser Joch aber wird von schwei¬
zerischer Seite noch ziemlich lebhaft benutzt. Da kauu mau deun noch hent-
zutage das seltsame Schauspiel mit ansehen, wie auf einem Wege, den der Be-
wohner der Ebene für halsbrecherisch anzusehen geneigt ist, das geduldige
Saumthier sicheren Schrittes den edeln Veltliner auf höchst primitive» Fahr¬
zeugen über die Alpen befördert.

Für einen sonnenklaren Oktobernachmittag ist es eine herrliche Wanderung
uach dein Wormser Joch hinauf. Geraume Zeit schlängelt sich der Weg durch
prächtigen Wald, schäumende Bäche rauschen hernieder, ab und zu wird noch
eine weidende Ziege sichtbar oder wenigstens hörbar mit ihrem silberhellen
Glöcklein. Dann schwindet der Baumwuchs und die Weidealp beginnt. Eine
fast unheimliche Stille liegt über dem gelblich grünen Plan. Die Sennhütten
sind verlassen, der schmucken Heerden vielstimmiges Geläute ist verstummt.
Die Steigung wird steiler; der herbstlichen Kühle zum Trotz rinnen die dicken
Schweißtropfen von der Stirne. Plötzlich wird es lebendig: ein weiubeladener
Schlitten kommt in Sicht. Wehmnthvollen Blickes betrachtest du die festver-
spuudeteu Fässer; denn die Zunge klebt dir am Gaumen und das Schnee-
wasser, das hie und da in den Ruusen niederquillt, löscht den Durst nnr,
damit er bald darauf um so lästiger brenne. Rasch zieht die kleine Karawane
vorüber. Wiederum vollendetes Schweigen. Später kommeu ein paar schwarze
Gesellen, italienische Arbeiter, die in die Heimath zurückkehren, vielleicht auch
Schmuggler, jedenfalls eine unholde Gesellschaft. Nun wandelst Du im Schnee,
der Anfangs spärlich, dann immer dichter den Boden deckt, so daß Dir die
Spur des Weges verloren geht. Kurz, die Fahrt ist nicht gerade gemüthlich
zu nennen. Dennoch hat sie einen eigenen Reiz. Ans der Höhe des Jochs
augelangt, breitet sich rings um Dich öde Winterlandschaft; vor Dir die nack¬
ten schwarzen Wände des Branlivkessels, darüber der glänzende Firn des
Monte Cristallo; rechts der schneebedeckte Rücken des Piz Umbrail, links der
des Monte Pressura; Du selbst stehst bis an die Knöchel im Schnee. Aber
kein packenderer Contrast ist denkbar, als wenn der rückwärts gewandte Blick
über die Wälder des Münsterthals hinstreift, deren herbstliche Farbenpracht die
Strahlen der Abendsonne vergolden. Schon schleicht des Mondes bleiche Sichel
über den Christallo, ehe Du Dich entschließen magst, von diesem Bilde Ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/37>, abgerufen am 23.07.2024.