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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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sein. Bis jetzt freilich hat im Plenum nur der allgemeine Gedankenaustausch
der ersten Lesung über ihn stattgefunden. Die Commission wird aber ihre
Berichterstattung ohne Zweifel so rasch bewerkstelligen, daß die beiden andere"
Lesungen womöglich noch in der neuen Woche vorgenommen werden können.
Die Commission selbst ist zu einem ablehnenden Beschlusse gekommen; es be¬
weist das jedoch uoch nichts für das Schicksal der Vorlage im Plenum. Im
Grunde dreht sich der Streit um die Frage, ob Staatsbahnen oder nicht. Wer
die Staatsbahnen im Prinzip bekämpft, wird auch den hier in Rede stehenden
Gesetzentwurf nicht annehmen können. Alle anderen Richtungen, nicht allein
die Freunde der Staatsbahnen schlechtweg, sondern auch die Anhänger des
sogenannten gemischten Systems, können wenigstens keine grundsätzlichen Ein¬
wände gegen die Erwerbung der Bahn erheben; nur die Form, in welcher
die Erwerbung sich vollziehen soll, können sie bemängeln und verwerfen. In
dieser Beziehung hat man die Rentabilitätsberechnung, wie sie in dem mit der
Gesellschaft abgeschlossenen Vertrage für den Fall des nach 15 Jahren er¬
folgenden vollständigen Ankaufs stipulirt ist, angegriffen; man hat andererseits
den sofortigen Ankauf vorgeschlagen. Es darf erwartet werden, daß der Com¬
missionsbericht diese Fragen vollkommen klarstellen wird. Die Erwerbung
selbst liegt jedenfalls durchaus im Wesen unserer heutigen Eisenbahupolitik, ja
die Minister hatten, trotz alles Widerspruchs, nicht Unrecht, wenn sie die An¬
nahme der Vorlage als eine logische Consequenz des vorjährigen Beschlusses
betreffs des Reichseisenbahnprojekts bezeichneten; denn dieser Beschluß ist gleich¬
bedeutend mit der Proklamirung wenn nicht des reinen Staatsbahnsystems
so doch eines gemischten Systems, in welchem die Staatsbahnen eine ganz
überragende und schlechthin maßgebende Stellung einnehmen. Der Sinn dieses
Systems geht dahin, daß der Staat die Hauptrichtungen des Verkehrs der¬
artig beherrsche, um den concurrirenden Privatbahnen die Tarife auferlegen
und so das Publikum vor Ausbeutung schützen zu können. In diesem Zu-
sammenhange betrachtet, springt die Wichtigkeit, welche die Linie Berlin-Dresden
für den Staat haben muß, sofort in die Augen. Daß der Handelsminister
die Fusion dieser Bahn mit der Berlin-AnHalter, welche nach dem Scheitern
der Garantievorlage im Abgeordnetenhause mit großem Eifer betrieben wurde,
inhibirt, begreift sich hiernach ebenso sehr, wie es zeigt, was eigentlich die
preußische Regierung mit der Betriebsübernahme bezweckt.

Leider hat sich dem Projekte diesmal eine neue Schwierigkeit entgegen¬
gestellt, welche seinen Gegnern eine willkommene Handhabe bietet: der Wider¬
spruch der sächsischen Regierung. Man beansprucht von Dresden aus, die auf
sächsischem Gebiet gelegene Strecke der Bahn selbst in Verwaltung zu nehmen;
eventuell erbietet man sich zum sofortigen Ankauf dieses Theiles. Daß eine


sein. Bis jetzt freilich hat im Plenum nur der allgemeine Gedankenaustausch
der ersten Lesung über ihn stattgefunden. Die Commission wird aber ihre
Berichterstattung ohne Zweifel so rasch bewerkstelligen, daß die beiden andere«
Lesungen womöglich noch in der neuen Woche vorgenommen werden können.
Die Commission selbst ist zu einem ablehnenden Beschlusse gekommen; es be¬
weist das jedoch uoch nichts für das Schicksal der Vorlage im Plenum. Im
Grunde dreht sich der Streit um die Frage, ob Staatsbahnen oder nicht. Wer
die Staatsbahnen im Prinzip bekämpft, wird auch den hier in Rede stehenden
Gesetzentwurf nicht annehmen können. Alle anderen Richtungen, nicht allein
die Freunde der Staatsbahnen schlechtweg, sondern auch die Anhänger des
sogenannten gemischten Systems, können wenigstens keine grundsätzlichen Ein¬
wände gegen die Erwerbung der Bahn erheben; nur die Form, in welcher
die Erwerbung sich vollziehen soll, können sie bemängeln und verwerfen. In
dieser Beziehung hat man die Rentabilitätsberechnung, wie sie in dem mit der
Gesellschaft abgeschlossenen Vertrage für den Fall des nach 15 Jahren er¬
folgenden vollständigen Ankaufs stipulirt ist, angegriffen; man hat andererseits
den sofortigen Ankauf vorgeschlagen. Es darf erwartet werden, daß der Com¬
missionsbericht diese Fragen vollkommen klarstellen wird. Die Erwerbung
selbst liegt jedenfalls durchaus im Wesen unserer heutigen Eisenbahupolitik, ja
die Minister hatten, trotz alles Widerspruchs, nicht Unrecht, wenn sie die An¬
nahme der Vorlage als eine logische Consequenz des vorjährigen Beschlusses
betreffs des Reichseisenbahnprojekts bezeichneten; denn dieser Beschluß ist gleich¬
bedeutend mit der Proklamirung wenn nicht des reinen Staatsbahnsystems
so doch eines gemischten Systems, in welchem die Staatsbahnen eine ganz
überragende und schlechthin maßgebende Stellung einnehmen. Der Sinn dieses
Systems geht dahin, daß der Staat die Hauptrichtungen des Verkehrs der¬
artig beherrsche, um den concurrirenden Privatbahnen die Tarife auferlegen
und so das Publikum vor Ausbeutung schützen zu können. In diesem Zu-
sammenhange betrachtet, springt die Wichtigkeit, welche die Linie Berlin-Dresden
für den Staat haben muß, sofort in die Augen. Daß der Handelsminister
die Fusion dieser Bahn mit der Berlin-AnHalter, welche nach dem Scheitern
der Garantievorlage im Abgeordnetenhause mit großem Eifer betrieben wurde,
inhibirt, begreift sich hiernach ebenso sehr, wie es zeigt, was eigentlich die
preußische Regierung mit der Betriebsübernahme bezweckt.

Leider hat sich dem Projekte diesmal eine neue Schwierigkeit entgegen¬
gestellt, welche seinen Gegnern eine willkommene Handhabe bietet: der Wider¬
spruch der sächsischen Regierung. Man beansprucht von Dresden aus, die auf
sächsischem Gebiet gelegene Strecke der Bahn selbst in Verwaltung zu nehmen;
eventuell erbietet man sich zum sofortigen Ankauf dieses Theiles. Daß eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/362>, abgerufen am 03.07.2024.