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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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als den Gedanken an die Rückkehr in die brutale Gewalt ihres unberechenbar
gewaltthätigen Vaters, Welch eine beklagenswerthe Jugend! Und wie wenig
kommt man solchem Schicksal gegenüber mit dem herkömmlichen Sittlichkeits¬
maße aus, wenn man nach demselben ihr wiederholtes Entrinnen aus der väter¬
lichen Hut und was sich daran knüpft, abschätzen will.

Ueber den Ausgang des Prozesses hat bisher nichts Genaues ermittelt
werden können. Nach sieben Monaten Haft scheinen sowohl Zorn wie Caro-
line wieder auf freien Fuß gesetzt worden zu sein, und wir hören, daß der
Bruder von Caroliuens Mutter, Archidicckouus Wilhelm in Greiz, Cciroline
zuletzt doch noch bewogen habe, sich mit ihrem Vater auszusöhnen und in "das
alte Joch" zurückzukehren.

Diese Erlebnisse der noch nicht sechzehnjähriger schließen eine, dank
jenen zwickcmer Akten, fast in völliger Deutlichkeit übersichtliche Lebensperiode
des jungen Mädchens ab.

Bis zu ihrem zwanzigsten Jahre fehlt uns dann eine- sichere Unterlage
für die Beurtheilung ihrer weitern Entwickelung. Ihr oben mitgetheilter Brief
scheint anzudeuten, daß sie ihre Verbindung mit dem Leidensgenossen als eine
sie wie ihn bindende Gewissensehe angesehen hat, damals etwas nicht so
ganz Seltenes und vou Zeit zu Zeit Gegenstand juristisch-theologischer Fehden.*)
Denn sie schreibt, wie erwähnt: von Herrn Zornen abzustehen sei "ihrem Ge¬
wissen und der Gerechtigkeit zuwider."

Warum der verdienstvolle Anffinder und Ausleger der zwickcmer Akten
die Ansicht ausspricht, Carolina möge sich über den Verlust ihres Geliebten
wohl bald getröstet haben, ist mir hiernach nicht verständlich. Anhaltpunkte
für eine solche Wankelmüthigkeit Carolinens werden nicht beigebracht, und wenn
Herr I)r. Herzog an einer andern Stelle sagt: "In obiger Weise endigte sich
also der erste Liebeshandel der nur erst fünfzehnjährigen Karoline, welche bald mit
dem zwickaner Primaner Johann Reuber, dessen Vater ein werdcmer Advokat
war, eine neue Liebschaft anknüpfte", so vermisseich auch in Betreff dieses "bald"
jeden Nachweis. Deun die bekannte Katastrophe ihrer Flucht mit dem Pri¬
maner Reuber fällt in das Jahr 1718, also in das 21. Lebensjahr Caro¬
linens, und zwischen jeuer Gewissensehe und diesem neuen Bunde liegeu
volle sechs Jahre. >

Vielleicht ist es richtiger und stimmt besser mit ihrem spätern, so viel sich
ermitteln läßt, in ihrer Glanzperiode durch keine Ausschweifungen anstößig
gewordenen Lebenswandel, wenn man annimmt, daß die bittre Lehre, welche



*) So klagt z, B, Rohr, der "in jene Zeit schrieb, über das überhandnehmen der
Gewissensehen.

als den Gedanken an die Rückkehr in die brutale Gewalt ihres unberechenbar
gewaltthätigen Vaters, Welch eine beklagenswerthe Jugend! Und wie wenig
kommt man solchem Schicksal gegenüber mit dem herkömmlichen Sittlichkeits¬
maße aus, wenn man nach demselben ihr wiederholtes Entrinnen aus der väter¬
lichen Hut und was sich daran knüpft, abschätzen will.

Ueber den Ausgang des Prozesses hat bisher nichts Genaues ermittelt
werden können. Nach sieben Monaten Haft scheinen sowohl Zorn wie Caro-
line wieder auf freien Fuß gesetzt worden zu sein, und wir hören, daß der
Bruder von Caroliuens Mutter, Archidicckouus Wilhelm in Greiz, Cciroline
zuletzt doch noch bewogen habe, sich mit ihrem Vater auszusöhnen und in „das
alte Joch" zurückzukehren.

Diese Erlebnisse der noch nicht sechzehnjähriger schließen eine, dank
jenen zwickcmer Akten, fast in völliger Deutlichkeit übersichtliche Lebensperiode
des jungen Mädchens ab.

Bis zu ihrem zwanzigsten Jahre fehlt uns dann eine- sichere Unterlage
für die Beurtheilung ihrer weitern Entwickelung. Ihr oben mitgetheilter Brief
scheint anzudeuten, daß sie ihre Verbindung mit dem Leidensgenossen als eine
sie wie ihn bindende Gewissensehe angesehen hat, damals etwas nicht so
ganz Seltenes und vou Zeit zu Zeit Gegenstand juristisch-theologischer Fehden.*)
Denn sie schreibt, wie erwähnt: von Herrn Zornen abzustehen sei „ihrem Ge¬
wissen und der Gerechtigkeit zuwider."

Warum der verdienstvolle Anffinder und Ausleger der zwickcmer Akten
die Ansicht ausspricht, Carolina möge sich über den Verlust ihres Geliebten
wohl bald getröstet haben, ist mir hiernach nicht verständlich. Anhaltpunkte
für eine solche Wankelmüthigkeit Carolinens werden nicht beigebracht, und wenn
Herr I)r. Herzog an einer andern Stelle sagt: „In obiger Weise endigte sich
also der erste Liebeshandel der nur erst fünfzehnjährigen Karoline, welche bald mit
dem zwickaner Primaner Johann Reuber, dessen Vater ein werdcmer Advokat
war, eine neue Liebschaft anknüpfte", so vermisseich auch in Betreff dieses „bald"
jeden Nachweis. Deun die bekannte Katastrophe ihrer Flucht mit dem Pri¬
maner Reuber fällt in das Jahr 1718, also in das 21. Lebensjahr Caro¬
linens, und zwischen jeuer Gewissensehe und diesem neuen Bunde liegeu
volle sechs Jahre. >

Vielleicht ist es richtiger und stimmt besser mit ihrem spätern, so viel sich
ermitteln läßt, in ihrer Glanzperiode durch keine Ausschweifungen anstößig
gewordenen Lebenswandel, wenn man annimmt, daß die bittre Lehre, welche



*) So klagt z, B, Rohr, der »in jene Zeit schrieb, über das überhandnehmen der
Gewissensehen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/358>, abgerufen am 03.07.2024.