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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Das bereits über sie Ermittelte zusammenzufassen, wäre jedoch schon eine
verdienstvolle Aufgabe, da eine solche Arbeit die beste Anregung zu allseitiger
Mitarbeiterschaft ist. Und da es, nach dein Ueberblick, den ich gewonnen zu
haben glaube, nicht so gar schwer sein kann, jene unfertige und mangelhafte
Vorstellung, welche wir im Allgemeinen mit der Nenberin verbinden, in ein
farbenfrisches und glaubhaftes Bild zu verwandeln, so sei durch die hier flüchtig
hingeworfene Skizze die Anregung zu einer erschöpfenderen Darstellung
wenigstens versucht.

Was ich aber auf den folgeirden Blättern als einen bloßen Umriß ihrer
eigenthümlichen Erscheinung biete, wird an Verständlichkeit gewinnen, wenn
ich über das Jahrhundert, dem sie angehört und dessen Ungeschmack sie zu
reinigen versuchte, -- wie sie selbst sich dieses Ungeschmacks erst zu entschlagen
bemüht war, -- einiges Allgemeine vorausschicke. Es ist dies um so weniger
ein Umweg, als die Nenberin ein Wanderleben führte und so im Norden wie
im Süden des römischen Reichs deutscher Zunge mit den Zuständen, die sie
vorfand, zu rechnen hatte. Dabei können selbstverständlich nicht bloß die
Kunst- und speziell die Theater-Zustände in Betracht kommen. Die allgemeine
Unsicherheit der Verhältnisse, die Rechtlosigkeit der großen Menge, die Unge¬
straftheit der oben in Gunst Stehenden, der Mangel jeder Kontrolle durch
die Tngespresse, der Wirrwarr in Angelegenheiten der Kunst und des guten
Geschmacks, alles Das mußte nothwendig in den damaligen deutschen Bühnen¬
zuständen seinen Widerschein finden, und diese Dinge sich lebhaft zu vergegen¬
wärtigen, ist das beste Mittel, um auch eine einzelne Persönlichkeit aus der
Zeit jener Bühnenzustände uicht nur in Bezug auf diese, sondern in Bezug
auf ihre ganze Zeitumgebung sich anschaulich vor Augen zu stellen.

Vor Allem wird festzuhalten sein, daß die Geburt der Nenberin in das
siebzehnte Jahrhundert fällt, das Jahrhundert des 30jährigen Krieges. Seit
dem westfälischen Friedensschlüsse war noch nicht die Lebenszeit zweier Gene-
rationen verstrichen. Wenn aber eine große Menge glaubhafter Augenzeugen
jener Zeit aus fast allen Theilen des Reiches Greuel berichtet, welche in dem
30jährigen Krieg einen durchaus so wüsten und unmenschlichen Charakter er¬
kennen lassen, wie er ohnlängst dem Kriege in Bulgarien aufgeprägt gewesen
ist, so hat die Phantasie geringe Mühe, an der Hand jener Chronisten sich die
Wirkung klar zu machen, welche eine 30jährige Dauer solch entarteter Zu¬
stände schließlich hervorbringen mußte. In der That hatte Deutschland nicht
nur zwei Drittheile seiner Bevölkerung eingebüßt. Die Ueberlebenden waren
auch zum größern Theile bis zur Bettelhaftigkeit verarmt, und was sie bei
Beginn des Krieges an Bürgerstolz, nationaler Sitte, kräftigem Selbstbewußt¬
sein und muthigem Trotze ihr eigen genannt hatten, war unter der Kriegsgeißel


Grouzboten >, 1877. 44

Das bereits über sie Ermittelte zusammenzufassen, wäre jedoch schon eine
verdienstvolle Aufgabe, da eine solche Arbeit die beste Anregung zu allseitiger
Mitarbeiterschaft ist. Und da es, nach dein Ueberblick, den ich gewonnen zu
haben glaube, nicht so gar schwer sein kann, jene unfertige und mangelhafte
Vorstellung, welche wir im Allgemeinen mit der Nenberin verbinden, in ein
farbenfrisches und glaubhaftes Bild zu verwandeln, so sei durch die hier flüchtig
hingeworfene Skizze die Anregung zu einer erschöpfenderen Darstellung
wenigstens versucht.

Was ich aber auf den folgeirden Blättern als einen bloßen Umriß ihrer
eigenthümlichen Erscheinung biete, wird an Verständlichkeit gewinnen, wenn
ich über das Jahrhundert, dem sie angehört und dessen Ungeschmack sie zu
reinigen versuchte, — wie sie selbst sich dieses Ungeschmacks erst zu entschlagen
bemüht war, — einiges Allgemeine vorausschicke. Es ist dies um so weniger
ein Umweg, als die Nenberin ein Wanderleben führte und so im Norden wie
im Süden des römischen Reichs deutscher Zunge mit den Zuständen, die sie
vorfand, zu rechnen hatte. Dabei können selbstverständlich nicht bloß die
Kunst- und speziell die Theater-Zustände in Betracht kommen. Die allgemeine
Unsicherheit der Verhältnisse, die Rechtlosigkeit der großen Menge, die Unge¬
straftheit der oben in Gunst Stehenden, der Mangel jeder Kontrolle durch
die Tngespresse, der Wirrwarr in Angelegenheiten der Kunst und des guten
Geschmacks, alles Das mußte nothwendig in den damaligen deutschen Bühnen¬
zuständen seinen Widerschein finden, und diese Dinge sich lebhaft zu vergegen¬
wärtigen, ist das beste Mittel, um auch eine einzelne Persönlichkeit aus der
Zeit jener Bühnenzustände uicht nur in Bezug auf diese, sondern in Bezug
auf ihre ganze Zeitumgebung sich anschaulich vor Augen zu stellen.

Vor Allem wird festzuhalten sein, daß die Geburt der Nenberin in das
siebzehnte Jahrhundert fällt, das Jahrhundert des 30jährigen Krieges. Seit
dem westfälischen Friedensschlüsse war noch nicht die Lebenszeit zweier Gene-
rationen verstrichen. Wenn aber eine große Menge glaubhafter Augenzeugen
jener Zeit aus fast allen Theilen des Reiches Greuel berichtet, welche in dem
30jährigen Krieg einen durchaus so wüsten und unmenschlichen Charakter er¬
kennen lassen, wie er ohnlängst dem Kriege in Bulgarien aufgeprägt gewesen
ist, so hat die Phantasie geringe Mühe, an der Hand jener Chronisten sich die
Wirkung klar zu machen, welche eine 30jährige Dauer solch entarteter Zu¬
stände schließlich hervorbringen mußte. In der That hatte Deutschland nicht
nur zwei Drittheile seiner Bevölkerung eingebüßt. Die Ueberlebenden waren
auch zum größern Theile bis zur Bettelhaftigkeit verarmt, und was sie bei
Beginn des Krieges an Bürgerstolz, nationaler Sitte, kräftigem Selbstbewußt¬
sein und muthigem Trotze ihr eigen genannt hatten, war unter der Kriegsgeißel


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[0353] Das bereits über sie Ermittelte zusammenzufassen, wäre jedoch schon eine verdienstvolle Aufgabe, da eine solche Arbeit die beste Anregung zu allseitiger Mitarbeiterschaft ist. Und da es, nach dein Ueberblick, den ich gewonnen zu haben glaube, nicht so gar schwer sein kann, jene unfertige und mangelhafte Vorstellung, welche wir im Allgemeinen mit der Nenberin verbinden, in ein farbenfrisches und glaubhaftes Bild zu verwandeln, so sei durch die hier flüchtig hingeworfene Skizze die Anregung zu einer erschöpfenderen Darstellung wenigstens versucht. Was ich aber auf den folgeirden Blättern als einen bloßen Umriß ihrer eigenthümlichen Erscheinung biete, wird an Verständlichkeit gewinnen, wenn ich über das Jahrhundert, dem sie angehört und dessen Ungeschmack sie zu reinigen versuchte, — wie sie selbst sich dieses Ungeschmacks erst zu entschlagen bemüht war, — einiges Allgemeine vorausschicke. Es ist dies um so weniger ein Umweg, als die Nenberin ein Wanderleben führte und so im Norden wie im Süden des römischen Reichs deutscher Zunge mit den Zuständen, die sie vorfand, zu rechnen hatte. Dabei können selbstverständlich nicht bloß die Kunst- und speziell die Theater-Zustände in Betracht kommen. Die allgemeine Unsicherheit der Verhältnisse, die Rechtlosigkeit der großen Menge, die Unge¬ straftheit der oben in Gunst Stehenden, der Mangel jeder Kontrolle durch die Tngespresse, der Wirrwarr in Angelegenheiten der Kunst und des guten Geschmacks, alles Das mußte nothwendig in den damaligen deutschen Bühnen¬ zuständen seinen Widerschein finden, und diese Dinge sich lebhaft zu vergegen¬ wärtigen, ist das beste Mittel, um auch eine einzelne Persönlichkeit aus der Zeit jener Bühnenzustände uicht nur in Bezug auf diese, sondern in Bezug auf ihre ganze Zeitumgebung sich anschaulich vor Augen zu stellen. Vor Allem wird festzuhalten sein, daß die Geburt der Nenberin in das siebzehnte Jahrhundert fällt, das Jahrhundert des 30jährigen Krieges. Seit dem westfälischen Friedensschlüsse war noch nicht die Lebenszeit zweier Gene- rationen verstrichen. Wenn aber eine große Menge glaubhafter Augenzeugen jener Zeit aus fast allen Theilen des Reiches Greuel berichtet, welche in dem 30jährigen Krieg einen durchaus so wüsten und unmenschlichen Charakter er¬ kennen lassen, wie er ohnlängst dem Kriege in Bulgarien aufgeprägt gewesen ist, so hat die Phantasie geringe Mühe, an der Hand jener Chronisten sich die Wirkung klar zu machen, welche eine 30jährige Dauer solch entarteter Zu¬ stände schließlich hervorbringen mußte. In der That hatte Deutschland nicht nur zwei Drittheile seiner Bevölkerung eingebüßt. Die Ueberlebenden waren auch zum größern Theile bis zur Bettelhaftigkeit verarmt, und was sie bei Beginn des Krieges an Bürgerstolz, nationaler Sitte, kräftigem Selbstbewußt¬ sein und muthigem Trotze ihr eigen genannt hatten, war unter der Kriegsgeißel Grouzboten >, 1877. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/353>, abgerufen am 04.07.2024.