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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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zugleich durch die ganze Welt unter den Bekennen: aller Religionen, deren Ge¬
stalt, Tracht und Sprache er annimmt, und theilt den Menschen die vom
Schicksal ihnen bestimmten Uebel oder Segnungen zu. Endlich aber fällt Chidr
auch mit Elijah oder Elias zusammen, der ebenfalls aus dem Brunnen des
Lebens getrunken hat und deshalb nicht sterben kann. Bekannt ist die arabische
Sage von Chidr, die Rückert in Verse gebracht hat, welche mit den Worten
beginnen: "Chidr, der ewig junge, sprach." Er zieht an einer Stadt vorbei,
wo ein Mann in einem Garten Früchte bricht, und fragt, wie lange die Stadt
hier sei. Die Antwort lautet, sie stehe seit ewigen Zeiten da und werde da
ewig stehen. Nach fünfhundert Jahren zieht Chidr desselben Weges und trifft
an der Stelle einen einsamen Schäfer mit feiner Heerde, der nichts von der
Stadt weiß. Wieder nach einem halben Jahrtausend sieht der unsterbliche
Wanderer an der Stätte des Weideplatzes, der einst eine Stadt gewesen, einen
See, in dem ein Fischer sein Netz auswirft. Abermals nach fünf Jahrhunderten
ist aus dem See ein Wald, und nochmals nach Verlauf einer solchen Periode
ans dem Walde wieder eine volkreiche Stadt geworden.

Man vergleiche hiermit die Alpensagen vom Matterhorn und der Grimsel,
vom G'steigthal und von der Kirche bei Blumenstein, namentlich aber die von
Basel, und man wird eine unleugbare Aehnlichkeit, erkennen und nicht in Ab¬
rede stellen, daß der Wanderjude, der hier wie in deu Volkssagen überhaupt
namenlos ist, sehr deutliche Züge von Chidr hat. Dieselbe Wiederkehr des
Wanderers, derselbe Wechsel in dem Aussehen der Orte, die er nach langer
Abwesenheit wieder betritt; uur an einer Stelle die Andeutung, daß die
Veränderung auf moralischen Ursachen beruht.

Daß andrerseits in dem ewigen Juden eine Erinnerung an den unter den
Menschen nmherwcmdernden, namentlich in den Zwölften immer wiederkehren¬
den Wuotan oder Odin liegt, zeigen andere deutsche Sagen. In der Edda
heißt Odin Wegtam, Gangradr, Gangleri, der wegmüde Wanderer. In der
Sage von Ragnar Lodbrokr erscheint er als graubärtiger Wallfahrer mit breitem
Hut und benageltem Schuh, um den Weg nach Rom zu weisen. Von diesem
Schuh ist der Schuster der Legende ein Nachklang. Der in Bern gezeigte,
aus hundert Flecken zusammengenähte Schuh aber erinnert ganz deutlich an
die Stelle in der jüngern Edda, wo es (in der Gylfaginning) bei der Schil¬
derung des letzten Kampfes der Götter mit Surtur, dem Fenriswolf und der
Midgardsschlange, unmittelbar nachdem Odin vom Wolfe verschlungen ist, von
Widar, der mit Wali allein die große Schlacht und den Untergang der alten
Welt überlebt und somit unsterblich wie Chidr und der ewige Jude ist, folgen¬
dermaßen heißt:


zugleich durch die ganze Welt unter den Bekennen: aller Religionen, deren Ge¬
stalt, Tracht und Sprache er annimmt, und theilt den Menschen die vom
Schicksal ihnen bestimmten Uebel oder Segnungen zu. Endlich aber fällt Chidr
auch mit Elijah oder Elias zusammen, der ebenfalls aus dem Brunnen des
Lebens getrunken hat und deshalb nicht sterben kann. Bekannt ist die arabische
Sage von Chidr, die Rückert in Verse gebracht hat, welche mit den Worten
beginnen: „Chidr, der ewig junge, sprach." Er zieht an einer Stadt vorbei,
wo ein Mann in einem Garten Früchte bricht, und fragt, wie lange die Stadt
hier sei. Die Antwort lautet, sie stehe seit ewigen Zeiten da und werde da
ewig stehen. Nach fünfhundert Jahren zieht Chidr desselben Weges und trifft
an der Stelle einen einsamen Schäfer mit feiner Heerde, der nichts von der
Stadt weiß. Wieder nach einem halben Jahrtausend sieht der unsterbliche
Wanderer an der Stätte des Weideplatzes, der einst eine Stadt gewesen, einen
See, in dem ein Fischer sein Netz auswirft. Abermals nach fünf Jahrhunderten
ist aus dem See ein Wald, und nochmals nach Verlauf einer solchen Periode
ans dem Walde wieder eine volkreiche Stadt geworden.

Man vergleiche hiermit die Alpensagen vom Matterhorn und der Grimsel,
vom G'steigthal und von der Kirche bei Blumenstein, namentlich aber die von
Basel, und man wird eine unleugbare Aehnlichkeit, erkennen und nicht in Ab¬
rede stellen, daß der Wanderjude, der hier wie in deu Volkssagen überhaupt
namenlos ist, sehr deutliche Züge von Chidr hat. Dieselbe Wiederkehr des
Wanderers, derselbe Wechsel in dem Aussehen der Orte, die er nach langer
Abwesenheit wieder betritt; uur an einer Stelle die Andeutung, daß die
Veränderung auf moralischen Ursachen beruht.

Daß andrerseits in dem ewigen Juden eine Erinnerung an den unter den
Menschen nmherwcmdernden, namentlich in den Zwölften immer wiederkehren¬
den Wuotan oder Odin liegt, zeigen andere deutsche Sagen. In der Edda
heißt Odin Wegtam, Gangradr, Gangleri, der wegmüde Wanderer. In der
Sage von Ragnar Lodbrokr erscheint er als graubärtiger Wallfahrer mit breitem
Hut und benageltem Schuh, um den Weg nach Rom zu weisen. Von diesem
Schuh ist der Schuster der Legende ein Nachklang. Der in Bern gezeigte,
aus hundert Flecken zusammengenähte Schuh aber erinnert ganz deutlich an
die Stelle in der jüngern Edda, wo es (in der Gylfaginning) bei der Schil¬
derung des letzten Kampfes der Götter mit Surtur, dem Fenriswolf und der
Midgardsschlange, unmittelbar nachdem Odin vom Wolfe verschlungen ist, von
Widar, der mit Wali allein die große Schlacht und den Untergang der alten
Welt überlebt und somit unsterblich wie Chidr und der ewige Jude ist, folgen¬
dermaßen heißt:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/350>, abgerufen am 23.07.2024.