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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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selbst angegriffen. Beide russische Generale behaupteten aber das Feld, bei
Jambvlu liefen die Türken beim ersten Anprall der feindlichen Cavallerie aus¬
einander, und Reschid war, trotzdem seine Leute mehr Muth zeigten, die russische
Linie nicht zu durchbrechen im Stande, er mußte vorerst nach Schnmla zurück¬
weichen. Da aber diese Festung durch die von Krassowski behauptete Position
kaum noch von Einfluß auf den ferneren Verlauf des Krieges war, sah Re¬
schid ein, daß er, wofern nicht Adrianopel verloren gehen sollte, welches als
die zweitwichtigste Stadt nach Konstantinopel mit allen verfügbaren Mitteln
vertheidigt werden mußte, Schumla räumen und, da ihm der nächste Weg nach
der rumelischen Tiefebene von den Russen versperrt war, auf einer anderen
Straße dahin zu gelangen versuchen mußte. Die Gegner aber waren ans ihrer
Hut. Kaum hatte er seinen Uebergang über den Balkan auf Wegen, die bis
dahin kein Heer eingeschlagen, bewerkstelligt und am 8. August die Stadt Se-
limieh erreicht, wo er ein verschanztes Lager zu beziehen gedachte, als Diebitsch
ihn mit Uebermacht aufsuchte und sein durch Desertion geschwächtes Heer am
12. mit solcher Energie angriff, daß es nach schwachem Widerstand auseinander¬
lief, so weit es nicht auf dem Platze blieb oder in Gefangenschaft gerieth.

Damit war die türkische Armee fast völlig vernichtet, und nichts konnte
die Russen mehr am Marsche auf Adrianopel und von dort nach der Haupt¬
stadt hindern. Hätten die Türken jetzt nicht alle Hoffnung und allen
Halt verloren gehabt, was bei ihren steten Niederlagen in diesem Feldzuge
nicht unerklärlich ist, so würden sie wenigstens Adrianopel eine Zeit lang zu
vertheidigen im Stande gewesen sein. Die Stadt war mit einer starken, von
Thürmen vertheidigten Mauer umgeben. Ihre Garnison zählte 15,000 Mann,
die größtentheils der regulären Armee angehörten, und zu denen die muha-
medanische Bevölkerung mindestens eben so viele Vertheidiger stellen konnte.
An Kanonen, Munition und Lebensmitteln scheint auch kein Mangel gewesen
zu sein. Die Regierung endlich hatte mit dem Versprechen, binnen Kurzem
sollte Hülfe von Anatolien kommen, zu hartnäckigster Vertheidigung aufge¬
fordert. Aber, wie schon angedeutet, Niedergeschlagenheit und Verzagtheit hatten
sich der Einwohner bemächtigt, die Soldaten waren entmuthigt, und so geschah
es, daß, als Diebitsch am 10. August vor den Thoren der großen Stadt an¬
langte, die Behörden derselben nicht einmal die Aufforderung zur Uebergabe
abwarteten, sondern die Kapitulation von freien Stücken anboten. Der Feld¬
herr der Russen nahm diesen Antrag an, stellte aber die härtesten Bedingungen.
Dieselben bestanden in der Auslieferung alles beweglichen Staatseigentums,
aller Waffen und aller Lebensmittel, sowie der Feldzeichen des Heeres, im Ab¬
zug der regulären Soldaten nach jeder beliebigen Richtung, die nach Konstanti¬
nopel ausgenommen, in der Entwaffnung der in der Stadt befindlichen irre-


selbst angegriffen. Beide russische Generale behaupteten aber das Feld, bei
Jambvlu liefen die Türken beim ersten Anprall der feindlichen Cavallerie aus¬
einander, und Reschid war, trotzdem seine Leute mehr Muth zeigten, die russische
Linie nicht zu durchbrechen im Stande, er mußte vorerst nach Schnmla zurück¬
weichen. Da aber diese Festung durch die von Krassowski behauptete Position
kaum noch von Einfluß auf den ferneren Verlauf des Krieges war, sah Re¬
schid ein, daß er, wofern nicht Adrianopel verloren gehen sollte, welches als
die zweitwichtigste Stadt nach Konstantinopel mit allen verfügbaren Mitteln
vertheidigt werden mußte, Schumla räumen und, da ihm der nächste Weg nach
der rumelischen Tiefebene von den Russen versperrt war, auf einer anderen
Straße dahin zu gelangen versuchen mußte. Die Gegner aber waren ans ihrer
Hut. Kaum hatte er seinen Uebergang über den Balkan auf Wegen, die bis
dahin kein Heer eingeschlagen, bewerkstelligt und am 8. August die Stadt Se-
limieh erreicht, wo er ein verschanztes Lager zu beziehen gedachte, als Diebitsch
ihn mit Uebermacht aufsuchte und sein durch Desertion geschwächtes Heer am
12. mit solcher Energie angriff, daß es nach schwachem Widerstand auseinander¬
lief, so weit es nicht auf dem Platze blieb oder in Gefangenschaft gerieth.

Damit war die türkische Armee fast völlig vernichtet, und nichts konnte
die Russen mehr am Marsche auf Adrianopel und von dort nach der Haupt¬
stadt hindern. Hätten die Türken jetzt nicht alle Hoffnung und allen
Halt verloren gehabt, was bei ihren steten Niederlagen in diesem Feldzuge
nicht unerklärlich ist, so würden sie wenigstens Adrianopel eine Zeit lang zu
vertheidigen im Stande gewesen sein. Die Stadt war mit einer starken, von
Thürmen vertheidigten Mauer umgeben. Ihre Garnison zählte 15,000 Mann,
die größtentheils der regulären Armee angehörten, und zu denen die muha-
medanische Bevölkerung mindestens eben so viele Vertheidiger stellen konnte.
An Kanonen, Munition und Lebensmitteln scheint auch kein Mangel gewesen
zu sein. Die Regierung endlich hatte mit dem Versprechen, binnen Kurzem
sollte Hülfe von Anatolien kommen, zu hartnäckigster Vertheidigung aufge¬
fordert. Aber, wie schon angedeutet, Niedergeschlagenheit und Verzagtheit hatten
sich der Einwohner bemächtigt, die Soldaten waren entmuthigt, und so geschah
es, daß, als Diebitsch am 10. August vor den Thoren der großen Stadt an¬
langte, die Behörden derselben nicht einmal die Aufforderung zur Uebergabe
abwarteten, sondern die Kapitulation von freien Stücken anboten. Der Feld¬
herr der Russen nahm diesen Antrag an, stellte aber die härtesten Bedingungen.
Dieselben bestanden in der Auslieferung alles beweglichen Staatseigentums,
aller Waffen und aller Lebensmittel, sowie der Feldzeichen des Heeres, im Ab¬
zug der regulären Soldaten nach jeder beliebigen Richtung, die nach Konstanti¬
nopel ausgenommen, in der Entwaffnung der in der Stadt befindlichen irre-


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[0274] selbst angegriffen. Beide russische Generale behaupteten aber das Feld, bei Jambvlu liefen die Türken beim ersten Anprall der feindlichen Cavallerie aus¬ einander, und Reschid war, trotzdem seine Leute mehr Muth zeigten, die russische Linie nicht zu durchbrechen im Stande, er mußte vorerst nach Schnmla zurück¬ weichen. Da aber diese Festung durch die von Krassowski behauptete Position kaum noch von Einfluß auf den ferneren Verlauf des Krieges war, sah Re¬ schid ein, daß er, wofern nicht Adrianopel verloren gehen sollte, welches als die zweitwichtigste Stadt nach Konstantinopel mit allen verfügbaren Mitteln vertheidigt werden mußte, Schumla räumen und, da ihm der nächste Weg nach der rumelischen Tiefebene von den Russen versperrt war, auf einer anderen Straße dahin zu gelangen versuchen mußte. Die Gegner aber waren ans ihrer Hut. Kaum hatte er seinen Uebergang über den Balkan auf Wegen, die bis dahin kein Heer eingeschlagen, bewerkstelligt und am 8. August die Stadt Se- limieh erreicht, wo er ein verschanztes Lager zu beziehen gedachte, als Diebitsch ihn mit Uebermacht aufsuchte und sein durch Desertion geschwächtes Heer am 12. mit solcher Energie angriff, daß es nach schwachem Widerstand auseinander¬ lief, so weit es nicht auf dem Platze blieb oder in Gefangenschaft gerieth. Damit war die türkische Armee fast völlig vernichtet, und nichts konnte die Russen mehr am Marsche auf Adrianopel und von dort nach der Haupt¬ stadt hindern. Hätten die Türken jetzt nicht alle Hoffnung und allen Halt verloren gehabt, was bei ihren steten Niederlagen in diesem Feldzuge nicht unerklärlich ist, so würden sie wenigstens Adrianopel eine Zeit lang zu vertheidigen im Stande gewesen sein. Die Stadt war mit einer starken, von Thürmen vertheidigten Mauer umgeben. Ihre Garnison zählte 15,000 Mann, die größtentheils der regulären Armee angehörten, und zu denen die muha- medanische Bevölkerung mindestens eben so viele Vertheidiger stellen konnte. An Kanonen, Munition und Lebensmitteln scheint auch kein Mangel gewesen zu sein. Die Regierung endlich hatte mit dem Versprechen, binnen Kurzem sollte Hülfe von Anatolien kommen, zu hartnäckigster Vertheidigung aufge¬ fordert. Aber, wie schon angedeutet, Niedergeschlagenheit und Verzagtheit hatten sich der Einwohner bemächtigt, die Soldaten waren entmuthigt, und so geschah es, daß, als Diebitsch am 10. August vor den Thoren der großen Stadt an¬ langte, die Behörden derselben nicht einmal die Aufforderung zur Uebergabe abwarteten, sondern die Kapitulation von freien Stücken anboten. Der Feld¬ herr der Russen nahm diesen Antrag an, stellte aber die härtesten Bedingungen. Dieselben bestanden in der Auslieferung alles beweglichen Staatseigentums, aller Waffen und aller Lebensmittel, sowie der Feldzeichen des Heeres, im Ab¬ zug der regulären Soldaten nach jeder beliebigen Richtung, die nach Konstanti¬ nopel ausgenommen, in der Entwaffnung der in der Stadt befindlichen irre-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/274>, abgerufen am 23.07.2024.