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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Daß das stetige Vorgehen der Russen in Mittelasien, und besonders die
Erfolge der letzten Jahre, wo eine Stadt nach der andern gefallen, und in
Besitz genommen, selbst Taschkend schon angegriffen war, die Aufmerksamkeit
des meist betheiligten Englands auf sich ziehe" mußte, kaun nicht Wunder
nehmen. Um nun die Cabinette zu beruhigen, erließ der Reichskanzler, Fürst
Gortschakow, unter dem 2. December 1864 eine Circularnote, in welcher
vor Allem die Absicht weitere Gebiete zu annectiren geleugnet wurde. Mau
habe aber im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ruhe, sowie in Rücksicht
auf die Handelsverbindungen die Verpflichtung, eine Oberherrschaft über die
benachbarten Nomadenstämme auszuüben. Dieser Verpflichtung könne man
aber uur nachkommen, wenn man die die Steppen einschließenden Landstriche
vollständig beherrsche.

Im Sinne dieses letzteren Satzes wurde zu Anfang des Jahres 1865 das
neu eroberte Land mit der Ssyr-darja-Linie und den Erwerbungen an dem
See IM-tut, wo man vom Fort Wiärnoje her bis an den Naryn vorgegangen
war, zu dem Grenzbezirke Turkestan verbunden, und dem General Tschernia-
jew unterstellt. Die obere Leitung in politischer wie in militairischer Beziehung
blieb jedoch noch in den Händen des General-Gouverneurs von Orenbnrg, des
Generals Kryschanowski.

"Die im Chanat Kokan ausgebrochenen und nicht enden wollenden Wirren
ließen befürchten -- so heißt es in den bezüglichen russischen Berichten -- daß
sich der Emir von Buchara leicht des wichtigen und nur 100 Werst von der
damaligen russischen Grenze entfernten Taschkents bemächtigen könnte." --
Um dies zu verhüten, schien es Tscherniajew angezeigt, jenem das Prävenire
zu spielen, und selbst sich in den Besitz dieser Stadt zu setzen. Er rückte zu
dem Ende an den Tschirtschick, nahm das Fort Nias-del und erschien am
7. Mai vor den Thoren Taschkents. Ein unter der persönlichen Führung des
Chans von Kokan -- Allen-tut -- ausgeführter Ausfall wurde abgewiesen
und der Chan selbst tödtlich verwundet. Nach einem 3tägigen Kampfe um
die Mauern und in den Straßen der Stadt wurde Taschkend von den Russen
in Besitz genommen. Dann wurde Tschinas und Kelentschi erobert, das ver¬
lassene Fort Niasbek wieder hergestellt und besetzt.

Der Emir von Buchara hatte sich mittlerweile Chodjents und Kokans be¬
mächtigt und verlangte nun, als factischer Herr von Kokan, daß bis zu einer
definitiven Regelung der Tschirtschick von den Russen als Grenze betrachtet
werde. Die Russen antworteten darauf mit der dauernden Besetzung auch des
linken Ufers dieses Flusses.

Auf die weitere Forderung des Emirs, Taschkend zu räumen, wurde eine
Gesandtschaft zu weiteren Verhandlungen abgesandt. Die Gefangennahme der-


Daß das stetige Vorgehen der Russen in Mittelasien, und besonders die
Erfolge der letzten Jahre, wo eine Stadt nach der andern gefallen, und in
Besitz genommen, selbst Taschkend schon angegriffen war, die Aufmerksamkeit
des meist betheiligten Englands auf sich ziehe« mußte, kaun nicht Wunder
nehmen. Um nun die Cabinette zu beruhigen, erließ der Reichskanzler, Fürst
Gortschakow, unter dem 2. December 1864 eine Circularnote, in welcher
vor Allem die Absicht weitere Gebiete zu annectiren geleugnet wurde. Mau
habe aber im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ruhe, sowie in Rücksicht
auf die Handelsverbindungen die Verpflichtung, eine Oberherrschaft über die
benachbarten Nomadenstämme auszuüben. Dieser Verpflichtung könne man
aber uur nachkommen, wenn man die die Steppen einschließenden Landstriche
vollständig beherrsche.

Im Sinne dieses letzteren Satzes wurde zu Anfang des Jahres 1865 das
neu eroberte Land mit der Ssyr-darja-Linie und den Erwerbungen an dem
See IM-tut, wo man vom Fort Wiärnoje her bis an den Naryn vorgegangen
war, zu dem Grenzbezirke Turkestan verbunden, und dem General Tschernia-
jew unterstellt. Die obere Leitung in politischer wie in militairischer Beziehung
blieb jedoch noch in den Händen des General-Gouverneurs von Orenbnrg, des
Generals Kryschanowski.

„Die im Chanat Kokan ausgebrochenen und nicht enden wollenden Wirren
ließen befürchten — so heißt es in den bezüglichen russischen Berichten — daß
sich der Emir von Buchara leicht des wichtigen und nur 100 Werst von der
damaligen russischen Grenze entfernten Taschkents bemächtigen könnte." —
Um dies zu verhüten, schien es Tscherniajew angezeigt, jenem das Prävenire
zu spielen, und selbst sich in den Besitz dieser Stadt zu setzen. Er rückte zu
dem Ende an den Tschirtschick, nahm das Fort Nias-del und erschien am
7. Mai vor den Thoren Taschkents. Ein unter der persönlichen Führung des
Chans von Kokan — Allen-tut — ausgeführter Ausfall wurde abgewiesen
und der Chan selbst tödtlich verwundet. Nach einem 3tägigen Kampfe um
die Mauern und in den Straßen der Stadt wurde Taschkend von den Russen
in Besitz genommen. Dann wurde Tschinas und Kelentschi erobert, das ver¬
lassene Fort Niasbek wieder hergestellt und besetzt.

Der Emir von Buchara hatte sich mittlerweile Chodjents und Kokans be¬
mächtigt und verlangte nun, als factischer Herr von Kokan, daß bis zu einer
definitiven Regelung der Tschirtschick von den Russen als Grenze betrachtet
werde. Die Russen antworteten darauf mit der dauernden Besetzung auch des
linken Ufers dieses Flusses.

Auf die weitere Forderung des Emirs, Taschkend zu räumen, wurde eine
Gesandtschaft zu weiteren Verhandlungen abgesandt. Die Gefangennahme der-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/24>, abgerufen am 23.07.2024.