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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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freilich die lästige Bedingung knüpft, daß seine Barbara von Michel Steno
heimgeführt werde. Seiner Braut zu Liebe klimmt Steno an Strickleitern zum
Dogenpalast empor; ihr bringt er Ständchen anf dem Wasser; ihr sucht er am
Carnevalsfest des Dogen zu nahen. Der eifersüchtige bejahrte Seeheld meint,
die Werbung gelte der Dogaressa. Er läßt den jungen Adligen, seinen Gast,
von seinen Dienern Hinauswerfen. Im vollen Sturm seines verletzten Ehr¬
gefühls schreibt Steno die schändlichen Verse an den Dogenstuhl. Soweit ist
Alles natürlich, psychologisch gerechtfertigt. Aber vor der gewaltsamen Ent¬
fernung des jungen Mannes ist etwas geschehen, das wir erst später erfahren.
Steno hat seiner Braut ins Ohr geflüstert, daß er sie im dunkeln Gang vor
dem Saal erwarte. Statt ihrer eilt zufällig die Herzogin dorthin, an Gestalt
und Größe seiner Braut ähnlich. Steno küßt und umarmt sie feurig. An
ihrem Schrei erkennt er den Irrthum. Er gelobt ihr Stillschweigen und bittet
auch sie zu schweige", zur Vermeidung aufregender, wahrscheinlich blutiger Be¬
gegnung zwischen ihm und dem Dogen. Auch das ist an sich gut erfunden.
Aber wenn diese Begegnung mit der Dogaressa der zwangsweisen Entfernung
Stenos aus dem Festsaal vorausgegangen wäre, so ist es unsres Trachtens
undenkbar, daß Steno, so veranlagt, wie ihn Kruse schildert, die historischen
Verse an den Dogenstuhl schrieb. Dadurch wurde die ohnehin unschöne That
zu einer ruchlosen Gemeinheit. In welchem Lichte mußte er der Dogaressa
erscheinen, wenn sie von den Schmähversen erfuhr, nachdem er ihr den Grund
ihres zufälligen Zusammentreffens offenbart, ihr fein Wort gegeben hatte, daß
er schweigen werde! Steno handelt demnach bei Kruse zu Anfang des Stückes
als ein vollendeter Lump. Er steht viel schlimmer da, als der Steno Byrons,
der das vlasirte Bedürfniß fühlt, seinen allgemeinen Zweifel an Frauentugeud
auch einmal der Herzogin zuzuwenden.

Es erscheint uns als eine zu starke Zumuthung an die Phantasie der
Zuschauer oder Leser, daß sich ans diesem gemeinen Verleumder in fünf kurzen
Acten ein bewunderungswürdiger Staatsmann entwickeln soll. Und die Freude
an der stetig wachsenden Vollendung seines Charakters wird uns dadurch noch
mehr getrübt, daß wir eben erst später erfahren, wie er der Herzogin begegnete,
ehe er seine Schmähverse schrieb, und dadurch auf die psychologische UnWahr¬
scheinlichkeit dieses Charaktersbildes noch ganz besonders nachdrücklich aufmerksam
gemacht werden.

Es soll in keiner Weise behauptet werden, daß der Dichter diesem Ein¬
wand gegenüber ungewaffnet dastehe. Er kann uns antworten: "Schon ehe
Michel Steno auftritt, sagt von ihm der strenge Antonio Barbaro, jene Hand¬
lung sehe ihm gar nicht ähnlich. Es ist das Eigenthümliche aller Leiden¬
schaften, daß sie im Augenblicke der höchsten Erregung den Menschen blind


freilich die lästige Bedingung knüpft, daß seine Barbara von Michel Steno
heimgeführt werde. Seiner Braut zu Liebe klimmt Steno an Strickleitern zum
Dogenpalast empor; ihr bringt er Ständchen anf dem Wasser; ihr sucht er am
Carnevalsfest des Dogen zu nahen. Der eifersüchtige bejahrte Seeheld meint,
die Werbung gelte der Dogaressa. Er läßt den jungen Adligen, seinen Gast,
von seinen Dienern Hinauswerfen. Im vollen Sturm seines verletzten Ehr¬
gefühls schreibt Steno die schändlichen Verse an den Dogenstuhl. Soweit ist
Alles natürlich, psychologisch gerechtfertigt. Aber vor der gewaltsamen Ent¬
fernung des jungen Mannes ist etwas geschehen, das wir erst später erfahren.
Steno hat seiner Braut ins Ohr geflüstert, daß er sie im dunkeln Gang vor
dem Saal erwarte. Statt ihrer eilt zufällig die Herzogin dorthin, an Gestalt
und Größe seiner Braut ähnlich. Steno küßt und umarmt sie feurig. An
ihrem Schrei erkennt er den Irrthum. Er gelobt ihr Stillschweigen und bittet
auch sie zu schweige», zur Vermeidung aufregender, wahrscheinlich blutiger Be¬
gegnung zwischen ihm und dem Dogen. Auch das ist an sich gut erfunden.
Aber wenn diese Begegnung mit der Dogaressa der zwangsweisen Entfernung
Stenos aus dem Festsaal vorausgegangen wäre, so ist es unsres Trachtens
undenkbar, daß Steno, so veranlagt, wie ihn Kruse schildert, die historischen
Verse an den Dogenstuhl schrieb. Dadurch wurde die ohnehin unschöne That
zu einer ruchlosen Gemeinheit. In welchem Lichte mußte er der Dogaressa
erscheinen, wenn sie von den Schmähversen erfuhr, nachdem er ihr den Grund
ihres zufälligen Zusammentreffens offenbart, ihr fein Wort gegeben hatte, daß
er schweigen werde! Steno handelt demnach bei Kruse zu Anfang des Stückes
als ein vollendeter Lump. Er steht viel schlimmer da, als der Steno Byrons,
der das vlasirte Bedürfniß fühlt, seinen allgemeinen Zweifel an Frauentugeud
auch einmal der Herzogin zuzuwenden.

Es erscheint uns als eine zu starke Zumuthung an die Phantasie der
Zuschauer oder Leser, daß sich ans diesem gemeinen Verleumder in fünf kurzen
Acten ein bewunderungswürdiger Staatsmann entwickeln soll. Und die Freude
an der stetig wachsenden Vollendung seines Charakters wird uns dadurch noch
mehr getrübt, daß wir eben erst später erfahren, wie er der Herzogin begegnete,
ehe er seine Schmähverse schrieb, und dadurch auf die psychologische UnWahr¬
scheinlichkeit dieses Charaktersbildes noch ganz besonders nachdrücklich aufmerksam
gemacht werden.

Es soll in keiner Weise behauptet werden, daß der Dichter diesem Ein¬
wand gegenüber ungewaffnet dastehe. Er kann uns antworten: „Schon ehe
Michel Steno auftritt, sagt von ihm der strenge Antonio Barbaro, jene Hand¬
lung sehe ihm gar nicht ähnlich. Es ist das Eigenthümliche aller Leiden¬
schaften, daß sie im Augenblicke der höchsten Erregung den Menschen blind


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[0229] freilich die lästige Bedingung knüpft, daß seine Barbara von Michel Steno heimgeführt werde. Seiner Braut zu Liebe klimmt Steno an Strickleitern zum Dogenpalast empor; ihr bringt er Ständchen anf dem Wasser; ihr sucht er am Carnevalsfest des Dogen zu nahen. Der eifersüchtige bejahrte Seeheld meint, die Werbung gelte der Dogaressa. Er läßt den jungen Adligen, seinen Gast, von seinen Dienern Hinauswerfen. Im vollen Sturm seines verletzten Ehr¬ gefühls schreibt Steno die schändlichen Verse an den Dogenstuhl. Soweit ist Alles natürlich, psychologisch gerechtfertigt. Aber vor der gewaltsamen Ent¬ fernung des jungen Mannes ist etwas geschehen, das wir erst später erfahren. Steno hat seiner Braut ins Ohr geflüstert, daß er sie im dunkeln Gang vor dem Saal erwarte. Statt ihrer eilt zufällig die Herzogin dorthin, an Gestalt und Größe seiner Braut ähnlich. Steno küßt und umarmt sie feurig. An ihrem Schrei erkennt er den Irrthum. Er gelobt ihr Stillschweigen und bittet auch sie zu schweige», zur Vermeidung aufregender, wahrscheinlich blutiger Be¬ gegnung zwischen ihm und dem Dogen. Auch das ist an sich gut erfunden. Aber wenn diese Begegnung mit der Dogaressa der zwangsweisen Entfernung Stenos aus dem Festsaal vorausgegangen wäre, so ist es unsres Trachtens undenkbar, daß Steno, so veranlagt, wie ihn Kruse schildert, die historischen Verse an den Dogenstuhl schrieb. Dadurch wurde die ohnehin unschöne That zu einer ruchlosen Gemeinheit. In welchem Lichte mußte er der Dogaressa erscheinen, wenn sie von den Schmähversen erfuhr, nachdem er ihr den Grund ihres zufälligen Zusammentreffens offenbart, ihr fein Wort gegeben hatte, daß er schweigen werde! Steno handelt demnach bei Kruse zu Anfang des Stückes als ein vollendeter Lump. Er steht viel schlimmer da, als der Steno Byrons, der das vlasirte Bedürfniß fühlt, seinen allgemeinen Zweifel an Frauentugeud auch einmal der Herzogin zuzuwenden. Es erscheint uns als eine zu starke Zumuthung an die Phantasie der Zuschauer oder Leser, daß sich ans diesem gemeinen Verleumder in fünf kurzen Acten ein bewunderungswürdiger Staatsmann entwickeln soll. Und die Freude an der stetig wachsenden Vollendung seines Charakters wird uns dadurch noch mehr getrübt, daß wir eben erst später erfahren, wie er der Herzogin begegnete, ehe er seine Schmähverse schrieb, und dadurch auf die psychologische UnWahr¬ scheinlichkeit dieses Charaktersbildes noch ganz besonders nachdrücklich aufmerksam gemacht werden. Es soll in keiner Weise behauptet werden, daß der Dichter diesem Ein¬ wand gegenüber ungewaffnet dastehe. Er kann uns antworten: „Schon ehe Michel Steno auftritt, sagt von ihm der strenge Antonio Barbaro, jene Hand¬ lung sehe ihm gar nicht ähnlich. Es ist das Eigenthümliche aller Leiden¬ schaften, daß sie im Augenblicke der höchsten Erregung den Menschen blind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/229>, abgerufen am 23.07.2024.